EU-Ausländerin kann ohne Erwerbstätigkeit in der Schweiz bleiben

Erneut können wir für eine Rentnerin eine Aufenthaltsbewilligung erwirken. Anders als im Aktuellen Fall vom 13. Oktober 2022 handelt es sich um eine Staatsangehörige aus der EU. Aus diesem Grund gehen die staatsvertraglichen Bestimmungen des Freizügigkeitsabkommens und seiner Anhänge vom 21. Juni 1999 (FZA) und der gestützt darauf erlassenen Ausführungsbestimmungen dem Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) vor (vgl. Art. 2 Abs. 2 AIG).

Das MIKA erteilt auf Einsprache hin (vgl. § 7 f. Einführungsgesetz zum Ausländerrecht [EGAR]) die Bewilligung. Diese begründet es indessen nicht auf Art. 24 Anhang I des FZA und der Ausführungsbestimmung in Art. 16 der Verordnung über den freien Personenverkehr (VFP), wonach eine Staatsangehörige der EU subsidiär ohne Ausübung einer Erwerbstätigkeit eine Aufenthaltsbewilligung erhält, wenn sie über eine Krankenversicherung mit Abdeckung sämtlicher Risiken verfügt und den Nachweis erbringt, dass sie für sich selbst und ihre Familienangehörigen über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie nicht Sozialhilfe beziehen muss.

Vielmehr erteilt das MIKA die Bewilligung aus wichtigen Gründen gestützt auf Art. 20 VFP und Art. 30 Abs. 1 Bst. b AIG sowie Art. 31 VZAE. Insbesondere berücksichtig das Amt die gute Integration der Gesuchstellerin, ihre familiären Beziehungen zu den erwachsenen Kindern in der Schweiz und ihre frühere Aufenthaltsdauer von fast 20 Jahren mit entsprechender Einzahlung in die Vorsorgeeinrichtungen. Außerdem weist das Amt zu Recht darauf hin, dass bei den knappen finanziellen Mitteln zwar eine latente EL-Berechtigung bestehe, eine solche jedoch auch bei einer Niederlassungsbewilligung bestünde.

vgl. auch Ziff. 6 der Weisungen VFP.

 

Aufsichtsanzeige als bloßer Rechtsbehelf

Jede Person kann jederzeit Tatsachen, die im öffentlichen Interesse ein Einschreiten von Amtes wegen gegen Behörden und deren Mitarbeitende erfordern, der Aufsichtsbehörde anzeigen (vgl. § 38 VRPG/AG). In unserem Fall hat dies X. selbst beim kantonalen Departement gemacht, um die Untätigkeit der kommunalen Bauverwaltung bzw. des Gemeinderates als Baupolizeibehörde zu rügen. Konkret geht es um eine Kleinbaute in der Nachbarschaft, die vor ein paar Jahren zu nahe an der Grenze und ohne Baubewilligung erstellt wurde.

Wir klären ihn über die Aufsichtsanzeige auf. Insbesondere ist die Aufsichtsanzeige kein förmliches Rechtsmittel, das dem Betroffenen Parteirechte einräumt. Wenn immer möglich, sollte daher eine Verfügung verlangt werden, die man anschließend mit Anspruch auf Behandlung weiterziehen kann. Denn der Entscheid über eine Aufsichtsanzeige kann mangels Parteirechten nicht mit Beschwerde (vgl. §§ 41 ff. VRPG/AG) angefochten werden, sondern dagegen kann wiederum nur Aufsichtsanzeige an die nächsthöhere Verwaltungsbehörde geführt werden.

Die Aufsichtsanzeige hat immerhin eine „gute“ Seite: Das Verfahren ist unentgeltlich, außer die Anzeige wäre leichtfertig oder böswillig eingereicht worden. Außerdem kann der Anzeiger eine „Beantwortung“ erwarten (vgl. § 38 Abs. 2 und Abs. 3 VRPG/AG).

Leidensabzug in der Invalidenversicherung aufgegeben

Bei der Ermittlung des Invalideneinkommens verwendet die Invalidenversicherung (IV) Tabellenlöhne, wenn die versicherte Person kein effektives Erwerbseinkommen mehr erzielt.

Bis vor Kurzem bezweckte dabei der sogenannte leidensbedingte Abzug (auch Leidensabzug, Behinderungsabzug oder behinderungsbedingter Abzug genannt), die Tabellenlöhne für Personen zu korrigieren, die ihre gesundheitlich bedingte Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlich erwerblichem Erfolg verwerten können. Abzugsrechtlich relevant waren alle Einschränkungen, die zusätzlich zur medizinisch attestierten Arbeitsfähigkeit vorhanden sind (vgl. Bundesgericht, Urteil 9C_325/2013 E. 4.2; 9C_436/2011 E. 3.3).

Die Rechtsprechung definierte die einkommens­beein­flussenden Kriterien wie Lebensalter, Anzahl Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad. Der Abzug sollte nicht standardmäßig erfolgen und maximal 25% betragen. Die Rechtsprechung dazu war schwer zu überblicken. Die IV-Stellen verneinten regelmäßig den in ihrem Ermessen festzulegenden Abzug mit der Begründung, die Einschränkungen seien bereits im medizinisch zumutbaren Belastbarkeitsprofil enthalten. Eine gerichtliche Korrektur scheiterte oft an der Kognition (Überprüfungsumfang) der Versicherungsgerichte, da diese nicht ohne Not von der Ermessensausübung der Verwaltung abweichen, und die Kognition des Bundesgerichts war auf Willkürprüfung beschränkt.

Mit der Weiterentwicklung der IV, in Kraft seit 01. Januar 2022, wird der Leidensabzug aufgegeben und durch neue Korrekturfaktoren ersetzt. Neu wird von funktioneller Leistungsfähigkeit (vgl. Art. 54a Abs. 3 IVG; Art. 49 Abs. 1bis IVV) gesprochen und ein Teilzeitabzug gewährt (vgl. Art. 26bis Abs. 3 IVV).

Bei der Festsetzung der funktionellen Leistungsfähigkeit ist die medizinisch attestierte Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit und für angepasste Tätigkeiten unter Berücksichtigung sämtlicher physischen, psychischen und geistigen Ressourcen und Einschränkungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht zu beurteilen und zu begründen. Mit dem neuen Regime sollen nun jegliche durch die Invalidität bedingte quantitative und qualitative Einschränkungen bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (z.B. erhöhter Pausenbedarf, Belastungslimiten, Verlangsamungen, etc.) berücksichtigt sein. Die ärztlich festgestellte funktionelle Leistungsfähigkeit wird künftig wohl eher tiefer ausfallen, als das bisher der Fall war. Eine Beschränkung auf 25%, wie das beim Leidensabzug der Fall war, fällt weg.

Kann die versicherte Person aufgrund ihrer Invalidität nur noch mit einer funktionellen Leistungsfähigkeit von 50 % oder weniger tätig sein, werden vom statistisch bestimmten Wert 10 % für Teilzeitarbeit abgezogen.

Die Abzüge fallen nicht mehr ins Ermessen der IV-Stelle und können nun leichter gerichtlich überprüft werden.

 

Muss ich des Nachbarn Abwasserleitung instand halten?

Nach den gewässerschutzrechtlichen Bestimmungen ist der „Inhaber“ einer Leitung zu deren sachgerechter Erstellung und Unterhalt verpflichtet, damit die Leitung keine Gefahr für das Grundwasser und die Umwelt darstellt (vgl. Art. 15 GschG). Vernachlässigt er diese Pflicht, kann an seiner Stelle das Gemeinwesen Zwangsmaßnahmen anordnen oder bei unmittelbarer Gefahr auch Ersatzmaßnahmen vornehmen und anschließend die Kosten auf den Inhaber überwälzen (vgl. Art. 53 f. GschG).

Ein Hauseigentümer gelangt an uns, weil er befürchtet, dass er die Reparatur der lecken Abwasserleitung berappen muss, die vom Nachbargrundstück über sein Grundstück in die Sammelabwasserleitung auf der Straße gelegt ist. Wir klären ab und gehen davon aus, dass Leitung zivilrechtlich dem Nachbarn gehört, weil sie von seinem Grundstück ausgeht und ihm dient (vgl. Art. 676 ZGB). Außerdem besteht ein Notleitungsrecht (vgl. Art. 691 ZGB) und dementsprechend ein Anspruch des Nachbarn, die Leitung im Grundbuch als Dienstbarkeit einzutragen. Damit ist der Nachbar grundsätzlich selbst für seine Leitung verantwortlich.

Allerdings besteht das Risiko, dass bei Passivität des Nachbarn unser Hauseigentümer von der Gemeinde als „Inhaber“ im gewässerschutzrechtlichen Sinne aufgefasst bzw. als Störer betrachtet wird. Selbst wenn er völlig schuldlos ist, kann er als Zustandsstörer mit tatsächlicher Herrschaft über die Leitung auf seinem Grundstück aufgefasst werden; dadurch riskiert er, am Schluss einen Teil der Kosten für die Ersatzvornahme betreffend die fremde Leitung übernehmen zu müssen. Nach aargauischer Praxis können 20 Prozent der Kosten auf ihn überwälzt werden (vgl. AGVE 2006 Nr. 98).

Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung?

Die Abgrenzung zwischen den Ansprüchen verschiedener Sozialversicherungen ist komplex und für die Betroffenen oft schwer zu durchschauen. Dafür sind wir da. Wir regeln das für Sie.

Meldet sich jemand wegen eines Gesundheitsschadens bei der Invalidenversicherung (IV), steht ihm bzw. ihr ein langes Abklärungsverfahren bevor. Die IV prüft, ob und wie sich die gesundheitliche Beeinträchtigung auf die funktionelle Leistungsfähigkeit und letztlich auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt. Das Abklärungsverfahren kann mehrere Monate bis Jahre dauern.

Verliert die bei der IV angemeldete Person (z.B. nach Ablauf der Sperrfrist, vgl. Art. 336c OR) ihre Arbeitsstelle, kann sie sich bei der Arbeitslosenversicherung (ALV) anmelden. Die ALV prüft dann, ob die Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind, namentlich ob die Rahmenfristen eingehalten sind (vgl. Art. 8 f. AVIG) und ob die Person vermittlungsfähig ist. Vermittlungsfähig ist, wer bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen (vgl. Art. 8 bzw. 15 AVIG). Teilt die Person der ALV mit, im Rahmen des medizinisch Zumutbaren Arbeit suchen zu wollen, schliesst die Arbeitslosenversicherung nicht selten auf eine reduzierte Vermittlungsfähigkeit. Setzt man sich dagegen nicht zur Wehr, zahlt die ALV nur reduzierte, der ärztlichen Arbeitsfähigkeitsbeurteilung entsprechende Taggelder aus oder verweigert sie ganz.

Damit missachtet die ALV jedoch die Koordinationsregeln zwischen der IV und der ALV. Denn ist ein Behinderter, unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage, nicht offensichtlich vermittlungsunfähig und hat er sich bei der IV angemeldet, so gilt er bis zum Entscheid der IV als vermittlungsfähig. Die Beurteilung seiner Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit durch die Invalidenversicherung wird dadurch nicht berührt (vgl. Art. 15 Abs. 3 AVIV).

Ganz generell gilt: Ist unklar, welche Versicherung für einen Versicherungsfall Leistungen zu erbringen hat, ist die Arbeitslosenversicherung gegenüber der Invalidenversicherung (und auch gegenüber der Krankenversicherung, der Militärversicherung und der Unfallversicherung) vorleistungspflichtig (vgl. Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG).

Befangener Gutachter einer hörbehinderten Versicherten

Nach Abschluss der Eingliederungsmaßnahmen liess die IV-Stelle unsere Mandantin psychiatrisch gutachterlich abklären. Nach Vorliegen des Gutachtens übten wir daran Kritik, weil der Gutachter unsere Mandantin gar nicht richtig verstanden hatte und mit ihrer schweren Hörbehinderung nicht adäquat umzugehen wusste. Eine korrekte und auf Vertrauen basierende Begutachtung lege artis sei nicht möglich gewesen, weshalb das Gutachten unbrauchbar sei.

Auf unsere Beschwerde gegen die Verfügung, welche die Rentenberechtigung verneint, kommt das Versicherungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2021 (VBE.2020.453 in den AGVE) zum Schluss, dass der Gutachter befangen gewesen sei. Es habe keine entspannte Atmosphäre geherrscht und auf die Schallempfindlichkeit der Versicherten sei nicht Rücksicht genommen worden. Das Gutachten erfülle damit die gesetzlichen Anforderungen nicht. Der Gutachter erwecke den Anschein der Befangenheit. Das Gutachten taugt somit nicht als Grundlage für die Renteneinstellung und die IV-Stelle muss die Angelegenheit erneut prüfen.

Inzwischen erhält unsere Mandantin die Rente.

 

Veruntreuung oder unrechtmäßige Aneignung?

In unserem aktuellen Fall konnten wir einen Beschuldigten verteidigen, welcher der Veruntreuung im Sinne von Art. 138 Ziff. 1 StGB in Mittäterschaft mit seiner Partnerin angeklagt war. Die beiden sollen Gold und Geld, das die Frau von ihrem Stiefvater zur Aufbewahrung anvertraut erhalten hatten, entgegen dessen Aufforderung nicht zurückgegeben haben. Vielmehr sollen sie dem Stiefvater ein Paket mit Steinen ins Tessin geschickt haben.

Über die erstinstanzliche Hauptverhandlung berichtete auch die Zeitung (vgl. Beitrag in der Aargauer Zeitung vom 18. September 2020). Die Mitbeschuldigten argumentierten, die Stieftochter hätte die Vermögenswerte im Kontext mit familiären Problemen geschenkt erhalten, so dass gar keine Pflicht zur Rückgabe bestanden habe. Dies glaubte ihnen das Gericht jedoch nicht. Weil aber die Frau gleichzeitig aussagte, irgendwann habe sie klein beigegeben und den Mann mit der Rücksendung beauftragt, wurde sie freigesprochen. Der Mann hingegen wurde wegen unrechtmäßiger Aneignung gemäß Art. 137 Ziff. 1 StGB schuldig gesprochen. Das Gericht sah bei ihm zwar entgegen der Staatsanwaltschaft keine Treuepflicht gegenüber dem Stiefvater der Frau und verurteilte ihn deshalb aufgrund des Auffangtatbestandes von Art. 137 Ziff. 1 StGB wegen unrechtmäßiger Aneignung.

Auf Berufung hin bestätigte das Obergericht diesen Schuldspruch. Weil die Staatsanwaltschaft selbst keine Berufung eingelegt hatte, konnte das Obergericht immerhin entgegen seinem erklärten Wille keine höhere Strafe aussprechen (sog. Verschlechterungsverbot / Verbot der reformatio in peius; Art. 391 Abs. 2 StPO). Das erstinstanzliche Gericht hatte „nur“ eine bedingte Geldstrafe ausgesprochen, während die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von 11 Monaten gefordert hatte.

Sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen der unrechtmäßigen Aneignung seien, so das Berufungsgericht, beim Beschuldigten erfüllt. So habe er seinen Aneignungswillen klar kundgetan, indem er das Gold und Geld entgegen der Aufforderung seiner Frau nicht zurückgeschickte, sondern im Gegenteil weiter versteckte und die Frau im Ungewissen ließ. Der Beschuldigte habe den Geschädigten dauerhaft enteignen und sich mindestens vorübergehend bereichern wollen. Trotz des auffallend langen Zuwartens des Stiefvaters mit seiner Anzeige, des offensichtlichen Streits zwischen den Stieftöchtern, der fehlenden Belege und weiterer Widersprüche in den Aussagen des Stiefvaters gehen beide Instanzen davon aus, dass er die Vermögenswerte nicht geschenkt hatte.

Dass letztlich der Beschuldigte als Alleintäter wegen einer anderen Tat als der angeklagten zu Lasten seiner Frau verurteilt worden ist, wie wir vorbringen, verwarf das Obergericht (vgl. Anklagegrundsatz; Art. 9 StPO).

 

Corona: Ohne gesetzliche Grundlage keine Skype-Gerichtsverhandlung

Die Administrativhaft im Ausländerrecht muss zu Beginn und später bei der Verlängerung auf Antrag des Betroffenen durch das Gericht im Rahmen einer „mündlichen Verhandlung“ geprüft werden (vgl. Art. 80 Abs. 2 AIG; Art. 78 Abs. 4 AIG). In unserem Fall befindet sich der Häftling schon ein halbes Jahr in sog. Durchsetzungshaft, mit der seine angeblich unzureichende Mitwirkung bei der Papierbeschaffung erzwungen werden soll.

Nachdem das zuständige Amt für Migration und Integration eine weitere Verlängerung der Durchsetzungshaft verfügt hat, ordnet das Gericht ohne Begründung und ohne Antrag einer Verfahrenspartei die Überprüfung via Videokonferenz an. Der Betroffene ist damit nicht einverstanden. Wir sehen für diese Vorgehensweise keine gesetzliche Grundlage und mehrere verfassungsmäßige Rechte und Prinzipien verletzt. Daher beantragen wir zu Beginn der Skype-Schalte die Absetzung und die Durchführung einer Präsenzverhandlung gemäß den gesetzlichen Vorgaben innerhalb der vorgegebenen Frist, was das Verwaltungsgericht ablehnt.

In der Folge müssen wir die Rüge in einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht gegen den Endentscheid vorbringen, der die Verlängerung der ausländerrechtlichen Durchsetzungshaft bestätigt.

Das Bundesgericht heißt mit Urteil vom 19. November 2021 (2C_846/2021) die Beschwerde gut und ordnet die Durchführung einer Präsenzverhandlung innerhalb von 96 Stunden an. Beim AIG sei gestützt auf die historische und teleologische Auslegung davon auszugehen, dass es sich bei der mündlichen Verhandlung um eine Präsenzverhandlung handle. Verzichte der Betroffene nicht auf diese vom Gesetz vorgesehene Verhandlung, dürfe nicht einfach auf Skype ausgewichen werden. Auch wenn das Bundesgericht nicht unmittelbar Stellung zur Frage bezieht, ob die Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht auf das Verwaltungsverfahren anwendbar ist, kann aus den Erwägungen geschlossen werden, dass es Aufgabe des (kantonalen) Gesetzgebers wäre, die Verfahrensordnung entsprechend anzupassen. Das Verwaltungsgericht hielt über die Verweisnorm in § 24 Abs. 4 VRPG/AG betreffend subsidiäre Anwendbarkeit der zivilprozessualen Beweisbestimmungen die bundesrätliche Notverordnung für anwendbar, obwohl aus unserer Sicht die Frage nach einer Präsenzverhandlung nichts mit Beweismitteln zu tun hat (vgl. dazu Art. 54 ZPO, auf den die Covid-19-Verordnung Bezug nimmt, der sich jedoch nicht im 10. Titel der ZPO zu „Beweis“ befindet; vgl. auch BGE 146 III 194 ff. [Handelsgericht ZH]).

Einvernehmliche Anpassung des nachehelichen Unterhalts

Ein Unglück kommt selten allein. Zuerst verliert unser Mandant nach fast drei Jahrzehnten seine Arbeitsstelle in einem großen Unternehmen. Danach flattert ihm eine einstweilige Verfügung ins Haus, die ihn verpflichtet, den kapitalisierten nachehelichen Unterhalt gemäß einem früheren Scheidungsurteil an seine Ex-Frau auf einmal sicherzustellen. Die Ex-Frau hatte behauptet, er wolle sich in sein Heimatland in Osteuropa absetzen, nachdem er hier seinen Job verloren habe. Ihr Anspruch sei daher wegen der drohenden Flucht und Beiseiteschaffung von Vermögenswerten gefährdet (vgl. Art. 132 ZGB). Das Gericht heißt den Antrag überraschend im Sinne einer superprovisorischen Anordnung von vorsorglichen Maßnahmen gut (vgl. Art. 261 ff. ZPO).

Zwar stimmt die behauptete Flucht nicht und der Mandant hätte gute Chancen, vor Gericht die Abweisung der beantragten und bloß superprovisorisch angeordneten Sicherstellung zu erreichen.

Doch er macht aus der Not eine Tugend: Vom Arbeitgeber vor die Wahl gestellt, entscheidet er sich für die Entlassung mit einer großzügigen Abgangsentschädigung (anstatt Frühpensionierung ohne Entschädigung, aber mit besserer Rente). Abklärungen bei der Steuerbehörde ergeben, dass die Entschädigung als vorsorgeähnlich eingestuft wird und daher steuerlich privilegiert ist. Dies gibt ihm die Möglichkeit, sich mit der Ex-Frau zu vergleichen und sich seiner Unterhaltspflicht  mit einer neu verhandelten Einmalzahlung  zu entledigen. Eine solche einvernehmliche Abänderung eines Scheidungsurteils betreffend den nachehelichen Unterhalt ist mit einfacher Schriftlichkeit zulässig, muss also nicht gerichtlich abgesegnet werden (vgl. Art. 284 Abs. 2 ZPO).

Die Reduktion des Betrages wiegt die steuerlichen Nachteile bei einer Einmalzahlung des Unterhalts (keine Abzugsmöglichkeit wie bei periodischen Leistungen; vgl. § 40 Abs. 1 StG/AG) teilweise auf und die Sache ist für den Mandanten endgültig und mit tiefen Prozesskosten erledigt.

Finanzierung von Kindesschutzmaßnahmen

Eine Gemeinde bittet uns um Unterstützung bei der Rückforderung von Kosten einer Beistandschaft für ein minderjähriges Kind. Auf Anordnung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde war für ein Kind eine Beistandschaft eingesetzt worden. Nach dessen Beendigung versucht die Gemeinde, die Kosten mindestens teilweise von den Eltern erhältlich zu machen.

Kindesschutzmaßnahmen wie insbe­sondere Beistand­schaften stellen Unterhaltskosten gemäss Art. 276 Abs. 1 ZGB dar (vgl. BGE 141 III 401, 403 E. 4.1). Nach Art. 276 Abs. 2 ZGB wird der Unterhalt durch Pflege und Erziehung oder, wenn das Kind nicht unter der Obhut der Eltern steht, durch Geldzahlung geleistet. Dabei tragen die Eltern den gebührenden Unterhalt je nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Unter ihnen gilt Solidarität; ist ein Elternteil leis­tungsunfähig oder gestorben, muss der andere allein für den Unterhalt aufkommen.

Falls das Gemeinwesen anstelle der Eltern für den Unterhalt des Kindes aufkommt, geht der Anspruch nach Art. 289 Abs. 2 ZGB im Sinne einer sog. Legalzession auf das Gemeinwesen über. Das Gemein­wesen bevorschusst somit die Kosten und fordert sie anschliessend im Rahmen der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht zurück. Das Gemeinwesen tritt dabei in die Rechte des Kindes gegenüber den Eltern ein; dazu gehört namentlich das Klagerecht des Kindes gegen Vater und Mutter oder gegen beide auf Unter­halts­leistung.

Die Legalzession ändert an der zivilrechtlichen Natur des Anspruchs nichts, auch dann nicht, wenn das Gemeinwesen seine Leistungen gestützt auf öffentliches kantonales Recht erbringt. Die Recht­sprechung verweist indes auf zwei Ausnahmen: Insoweit, als die von der Gemeinde erbrachten Leistungen – im Sinne einer Sozialhilfe – für die vollständige Deckung der Unterhaltskosten des Kindes erforderlich gewesen sein oder die Unterhaltspflicht der Eltern aus irgendwelchen Gründen überstiegen haben sollten, könnte ein gestützt auf Art. 293 ZGB vom kantonalen öffentlichen Recht begründeter Rückerstat­tungsanspruch in Betracht fallen. Entsprechend hält das Handbuch Soziales fest, dass die Kosten der Kindesschutzmassnahmen subsidiär, wenn die Kosten von den Eltern nicht oder nicht vollumfänglich getragen werden können, durch die Sozialhilfe zu übernehmen sind (vgl. Handbuch Soziales, Ziff. 15).

Sind die Voraussetzungen für eine Finanzierung übers Sozialrecht nicht erfüllt, steht der zivilrechtliche Weg mit Klage gegen die Eltern offen.