Befangener Gutachter einer hörbehinderten Versicherten

Nach Abschluss der Eingliederungsmaßnahmen liess die IV-Stelle unsere Mandantin psychiatrisch gutachterlich abklären. Nach Vorliegen des Gutachtens übten wir daran Kritik, weil der Gutachter unsere Mandantin gar nicht richtig verstanden hatte und mit ihrer schweren Hörbehinderung nicht adäquat umzugehen wusste. Eine korrekte und auf Vertrauen basierende Begutachtung lege artis sei nicht möglich gewesen, weshalb das Gutachten unbrauchbar sei.

Auf unsere Beschwerde gegen die Verfügung, welche die Rentenberechtigung verneint, kommt das Versicherungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2021 (VBE.2020.453 in den AGVE) zum Schluss, dass der Gutachter befangen gewesen sei. Es habe keine entspannte Atmosphäre geherrscht und auf die Schallempfindlichkeit der Versicherten sei nicht Rücksicht genommen worden. Das Gutachten erfülle damit die gesetzlichen Anforderungen nicht. Der Gutachter erwecke den Anschein der Befangenheit. Das Gutachten taugt somit nicht als Grundlage für die Renteneinstellung und die IV-Stelle muss die Angelegenheit erneut prüfen.

Inzwischen erhält unsere Mandantin die Rente.

 

Aktengutachten im Sozialversicherungsverfahren

Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) verneint weitere Taggeldleistungen, nachdem sie die Fußbeschwerden unseren Mandanten als nicht unfallkausal eingestuft hat. Allerdings verfügt der zuständige Kreisarzt nicht über die notwendige fachärztliche Expertise, so dass er einen externen Facharzt mit einer Aktenbeurteilung beauftragt. Der Versicherte erhält vorgängig keine Gelegenheit, seine Verfahrensrechte nach Art. 44 ATSG wahrzunehmen und sich insbesondere zur Person des Gutachters zu äußern.

Im anschließenden Beschwerdeverfahren stellt sich die insbesondere die Frage, ob extern eingeholte Aktenbeurteilungen als Gutachten gelten oder als bloße versicherungsinterne Stellungnahmen. Im Falle eines Gutachtens hätte die Suva als Sozialversicherer die Verfahrensrechte des Versicherten zu beachten. Die Suva geht von einem internen Bericht aus. Das Gericht lässt in casu die Frage offen. Es stellt aber dennoch auf den externen Bericht ab. Das Gericht sieht den (zwar herabgesetzten) Beweiswert der fachärztlichen Aktenbeurteilung im Sinne einer versicherungsinternen Stellungnahme gegeben und schützt auch gestützt darauf die Leistungseinstellung durch die Suva.

Kein weiteres IV-Gutachten trotz ärztlicher Kritik

In der Invalidenversicherung wie generell in der Sozialversicherung ist die gutachterliche Abklärung von Gesuchstellern besonders wichtig (vgl. Art. 43 f. des Bundesgesetztes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG]).

Was dann aber einmal im Gutachten steht, kann kaum mehr in Frage gestellt werden. Selbst wenn ein externer, ausgewiesener Facharzt die Ursachen der psychiatrischen Beschwerden als somatisch bedingt erkennt, taxiert das Bundesgericht dessen Expertise als nicht relevante, abweichende Zweitmeinung. Wie unser Mandant in einem aktuellen Fall erfahren musste, gilt dies sogar dann, wenn sich die Gutachter mit der Möglichkeit einer somatischen Ursache der Beschwerden nie auseinandergesetzt haben. Ein formell korrekt erstelltes Gutachten genießt somit höheren Beweiswert als eine inhaltlich überzeugende, aber nicht gutachterlich erstellte Einschätzung. Oder kurz: Form geht vor Inhalt.

Das Bundesgericht weist im konkreten Fall unsere Beschwerde mit Urteil vom 16. August 2018 ab.

Von entscheidender Bedeutung ist daher, bereits vor der Erstellung des Gutachtens, d.h. bei Auswahl der Gutachter und bei der Formulierung der Fragen, vorsichtig zu sein.