Invalidenrente neu bei Suchterkrankung

Eine Suchterkrankung führte bisher nicht zu einem Rentenanspruch gegenüber der Invalidenversicherung. Relevant wurde die Sucht erst, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkte oder die Folge eines solches Ereignisses war, so dass die Erwerbsfähigkeit beeinträchtig wurde.

Diese Rechtsprechung wurde mit Bundesgerichtsurteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 aufgegeben. Neu sind nachvollziehbar diagnostizierte Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen grundsätzlich als invalidenversicherungsrechtlich beachtliche psychische Gesundheitsschäden versichert. Die Diagnose allein genügt für einen Rentenanspruch aber nicht. Vielmehr sind die Auswirkungen des bestehenden Gesundheitsschadens auf die funktionelle Leistungsfähigkeit im Einzelfall für die Rechtsanwendenden nachvollziehbar ärztlich festzustellen (Art. 7 Abs. 2 ATSG; BGE 143 V 409, 412 f. E. 4.2.1 mit Hinweisen). Die Frage nach den Auswirkungen sämtlicher psychischer Erkrankungen auf das funktionelle Leistungsvermögen ist grundsätzlich unter Anwendung des strukturierten Beweisverfahrens zu beantworten (BGE 141 V 281 ff.). Hierzu gehören auch Abhängigkeitssyndrome. Dabei muss insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden. Zudem muss eine krankheitswertige Störung muss umso ausgeprägter vorhanden sein, je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren das Beschwerdebild mitprägen (BGE 127 V 294, 229 E. 5a).

Aus Gründen der Verhältnismässigkeit kann immerhin dort von einem strukturierten Beweisverfahren abgesehen werden, wo es nicht nötig oder geeignet ist. Es bleibt dann entbehrlich, wenn für eine länger dauernde Arbeitsunfähigkeit (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) keine Hinweise bestehen oder eine solche im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte in nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 409, 417 E. 4.5.3).

 

Befristung der IV-Rente verhindert

Die Invalidenversicherung verfügt eine auf ein paar wenige Monate befristete Rente. Sie stützt sich auf Arztberichte, die gravierende Rücken- und Hüftleiden ausweisen. Die IV-Ärzte widersprechen den behandelnden Fachärzten zwar nicht, schreiben die Versicherte aber für die Zukunft gesund. Nach einer kurzen Übergangsphase, so die IV-Ärzte, sei die Versicherte für leichte, angepasste  Tätigkeiten wieder voll arbeitsfähig. Die IV-Stelle nimmt diese Prognose für bare Münze und verfügt daraufhin eine befristete Rente.

Wir erheben für die Versicherte Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht. Für Versicherte mit Wohnsitz im Ausland ist nicht wie üblich die kantonale IV-Stelle, sondern die Zentrale Ausgleichskasse in Genf zuständig (Art. 40 IVV). Deren Verfügungen sind beim Bundesverwaltungsgericht mittels Beschwerde anfechtbar (Art. 69 Abs. 1 Bst. b IVG; Art. 31 ff. VGG).

Das Bundesverwaltungsgericht heißt die Beschwerde gut und ordnet im Urteil vom 16. Mai 2018 (C-4828_2017) die Weiterführung der Rente als unbefristete Rente an. Das Bundesverwaltungsgericht stellt klar, dass das Vorgehen der IV nicht zulässig ist.  Statt auf eine Prognose abzustellen, hätte die IV eine unbefristete Rente zusprechen müssen. Die Richtigkeit der Prognose der IV-Ärzte , so das Bundesverwaltungsgericht, wäre revisionsweise zu überprüfen gewesen. Das Gericht spricht eine unbefristete 3/4-Rente zu und weist zudem die IV-Stelle an, die mittlerweile eingetretene gesundheitliche Verschlechterung der Versicherten von Amtes wegen abzuklären. Die IV-Stelle hat sich bis dahin mit Verweis auf das laufende Gerichtsverfahren geweigert, die geltend gemachte Verschlechterung abzuklären.

 

 

Invalidenversicherung: Bundesgericht pfeift IV-Detektive zurück

Wie schon die Unfallversicherung verfügt auch die Invalidenversicherung über keine genügende gesetzliche Grundlage, um ihre Versicherten mittels Detektiven observieren zu lassen. Dies entschied das Bundesgericht in seinem Entscheid 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017. Im Nachgang zu dem höchstrichterlichen  Urteil wies das Bundesamt für Sozialversicherungen als Aufsichtsbehörde die IV-Stellen an, vorläufig keine Observationen mehr anzuordnen und laufende Überwachungen zu beenden.

Im Rahmen der laufenden Revision des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG) soll die fehlende gesetzliche Grundlage geschaffen werden, damit Bezügerinnen und Bezüger von IV-Leistungen (z.B. IV-Renten, Hilflosenentschädigungen etc.), die von den IV-Stellen des missbräuchlichen Leistungsbezugs verdächtig werden, wieder observiert werden dürfen.

(Foto: Surveillance camera, Times Square New York City, Stefan Meichssner, October 2017)