Großzügige Auslegung des Territorialitätsprinzips

In einem Fall von uns macht das Bundesgericht klar, dass in der Schweiz auch strafbar ist, wer in Grenzübergangsstellen auf deutschem Gebiet „geschnappt“ wird. Im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil 6B_1133/2021 vom 1. Februar 2023 spricht es sich dafür aus, dass zu den Schweizer Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die schweizerische Beamte in den Grenzabfertigungsstellen im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt in Deutschland anwenden, letztlich sämtliche Normen des gemeinen Strafrechts sowie des Nebenstrafrechts gehören (vgl. Art. 4 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Errichtung nebeneinanderliegender Grenzabfertigungsstellen und die Grenzabfertigung in Verkehrsmitteln während der Fahrt vom 1. Juni 1961 [SR 0.631.252.913.690]). Zu den „Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften des Nachbarstaates, die sich auf die Grenzabfertigung beziehen“ gehören damit nicht nur die Vorschriften eigentlicher zollrechtlicher Bundeserlass, sondern namentlich auch die in der Praxis wichtigen SVG-Strafbestimmungen.

Das Urteil ist aus Praktikabilitätsgründen nachvollziehbar, vor dem Hintergrund des Territorialitätsprinzips (vgl. Art. 3 StGB) sowie des Legalitätsprinzips und des Bestimmtheitsgebots (vgl. Art. 1 StGB) jedoch sehr heikel. Der Regierung ist nach unserem Dafürhalten die Befugnis abzusprechen, über Verwaltungsverordnungen die Strafbarkeit derart auszuweiten.

 

Verwarnung nach Verkehrsunfall

Unser Klient verursacht durch eine kurze Unachtsamkeit einen kleinen Unfall. Er fährt im stockenden Kolonnenverkehr eine ältere Frau an, die mit ihrem elektrischen Rollstuhl am rechten Fahrbahnrand unterwegs ist und in der Folge stürzt.

Strafrechtlich wird er mit einem Strafbefehl wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeuges (mangelnde Aufmerksamkeit; vgl. Art. 31 Abs. 1 und Art. 90 Abs. 1 SVG) mit einer Buße bestraft.

Seine Befürchtung, dass er zusätzlich im Rahmen einer sog. Administrativmaßnahme durch das Strassenverkehrsamt den Führerschein für eine gewisse Zeit verliert, können wir zerstreuen bzw. zerstreut das Amt durch entsprechende Mitteilung selbst.

Bei dem Unfall handelt es sich um eine leichte Widerhandlung gegen das Straßenverkehrsgesetz im Sinne von Art. 16a Abs. 1 Bst. a SVG, weil der Klient in der konkreten Situation nur eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat und ihn zudem nur ein geringes Verschulden trifft. Eine kurze Unaufmerksamkeit stellt regelmäßig ein leichtes Verschulden dar. Schwieriger ist im Einzelfall die Einschätzung der geringen Gefahr, bei der es sich um eine sog. erhöhte abstrakte Gefährdung handeln muss, die sich hier aber eben in einem, wenn auch kleinen, Unfall konkret verwirklicht hat.

Für die Sanktion bei einer leichten Widerhandlung ist der automobilistische Leumund entscheidend. Weil unser Klient noch keine Administrativmaßnahme hatte, wird er lediglich verwarnt. Hätte er hingegen in den letzten zwei Jahren bereits eine Administrativmaßnahme gehabt, würde ihm der Führerschein für die Mindestdauer von einem Monat entzogen werden (Art. 16a Abs. 2 f. SVG).

Schikanestopp ist kein Raserdelikt

Im Fall mit der Video-Überwachung auf der A1 und A3 (vgl. Aktueller Fall vom 22. Dezember 2019) ist materiell die strafrechtliche Würdigung des Schikanestopps von Interesse. Das Gericht folgt unserem Eventualbegehren und würdigt den Schikanestopp „nur“ als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG (nebst einer Nötigung in echter Konkurrenz). Es verwirft das Ansinnen der Staatsanwaltschaft, den konkreten Schikanestopp unseres Mandanten dem sog. „Rasertatbestand“ der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung von Art. 90 Abs. 3 SVG zu unterstellen.

Die Staatsanwaltschaft setzte sich mit ihrem Antrag zum einen in Widerspruch zu den Empfehlungen ihrer eigenen Oberstaatsanwaltschaft, die Schikanestopps als grobe Verkehrsregelverletzungen betrachten (vgl. Strafbefehlsempfehlungen OStA AG 2019, Ziff. 5.5). Zum anderen widerspräche die Subsumierung unter eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die bislang Schikanestopps als grobe Verkehrsregelverletzung betrachtete (vgl. BGE 137 IV 326, 332 E. 3.6).

In konkreten Fall sieht man auf der – wenn auch illegalen – Video-Überwachung, wie unser Mandant und sein Kumpel auf der wenig befahrenen A3 im Schinznacher Feld nach mehreren vorangegangenen Provokationen durch einen deutschen Audi fast gleichzeitig bis zum Stillstand bremsen, aussteigen und den Audi anhalten wollen. Dieser kann nach kurzem Stillstand über die Notspur weiterfahren. Die ersten unbeteiligten nachfolgenden Fahrzeuge erscheinen erst ca. 10 Sekunden später. Es gelingt uns, u.a. mit dem gerichtlichen Gutachten aufzuzeigen, dass der erste nachfolgende Personenwagen auf der übersichtlichen Strecke fast den dreifachen Anhalteweg zur Verfügung hatte. Damit ist die vom Bundesgericht für den „Rasertatbestand“ vorausgesetzte besonders naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung nicht gegeben. Das „hohe Risko eines Unfalles mit Schwerverletzten oder Todesopfern“ , wie es Art. 90 Abs. 3 SVG verlangt, war objektiv und subjektiv nicht gegeben, schon gar nicht war der Erfolgseintritt vergleichsweise nahe (vgl. Bundesgerichtsurteil 6B_698/2017 vom 13. Oktober 2017, E. 5.2).

Auch den Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine sog. fakultative Landesverweisung lehnt das Gericht ab. Jeder Ausländer kann bei einer Verurteilung wegen eines Vergehens oder Verbrechens ausgewiesen werden. Eine Landesverweisung ist also nicht nur bei den sog. Katalogtaten von Art. 66a StGB obligatorisch, sondern kann vom Gericht fast immer angeordnet werden (vgl. Art. 66a bis StGB). Bei dem gut integrierten, erwerbstätigen verheirateten EU-Ausländer gewichtet das Gericht indes das persönliche Interesse am Verbleiben in der Schweiz höher als das öffentliche Interesse an einer Fernhaltemaßnahme.

Video-Überwachung auf der A1 und A3 ohne Grundlage

Als Anwalt ist man mit der Zeit vielleicht etwas abgebrüht. Doch hin und wieder staunt man auch im gesetzteren Alter noch, wozu Politik, Regierung und Justiz fähig sind. So erging es uns hier, als uns die Polizei im Rahmen einer notwendigen Verteidigung minutenlange Video-Sequenzen von Überwachungskameras auf der A1 und A3 vorführte, von deren Existenz uns nichts bekannt war und die es gar nicht geben dürfte.

Ausgangslage: Zwei Frauen melden unabhängig von einander, dass sich auf der A3 im Bözberg-Tunnel drei Personenwagen gegenseitig provozieren und mit viel zu wenig Abstand hintereinander fahren würden. Da die Zeuginnen das Kennzeichen durchgeben, kann die Polizei wenige Minuten später die Übeltäter ausfindig machen.

Doch die Ermittlungen konzentrieren sich von Anfang an nicht auf das SVG-Delikt im Bözberg-Tunnel. Denn Minuten nach dem Notruf sicherte die Polizei Video-Aufzeichnungen vom Baregg-Tunnel auf der A1 bis zum Ende des Bözberg-Tunners auf der A3, also auf einer Länge auf ca. 20 km. Dabei stellte sie mehrere andere SVG-Widerhandlungen der drei Fahrzeuge fest, so insbesondere einen sog. „Schikane-Stopp“ im Schinznacher Feld. Von diesen Widerhandlungen war aufgrund des Notrufs bislang nichts bekannt gewesen.

Die Ermittlungen nehmen Ihren Gang, Zeugen werden befragt, ein Gutachten des Bundesamts für Metrologie wird eingeholt etc. Im Rahmen der Hauptverhandlung beantragt die Verteidigung, die meisten Beweise als unverwertbar aus den Akten zu weisen. Die Überwachung mittels optisch-elektronischer Anlagen sei nämlich ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Denn auch wenn nicht gleich intensiv wie im Thurgauer Auto-Scanning-Fall (Bundesgerichtsurteil 6B_908/2018 vom 7. Oktober 2019) in die Freiheitsrechte eingegriffen werde, sei dennoch eine hinreichend bestimmte generell-abstrakte Grundlage niederer Stufe erforderlich. Weil eine solche aber eben fehle und es nicht um die Aufklärung schwerer Straftaten gehe, sei folglich die Überwachung unverwertbar. Und weil sich die meisten nachfolgenden Beweise auf die unverwertbare Überwachung stützten, seien selbstredend auch diese aufgrund der Fernwirkung von Beweisverboten unverwertbar (vgl. Art. 141 StPO).

Für die sicherheitspolizeiliche Tätigkeit gelten das kantonale Polizei- und Datenschutzgesetz. Im geltenden Polizeigesetz findet sich nebst einer allgemeinen Norm freilich nur die Ermächtigung der Polizei, bei öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen Aufzeichnungen zu machen (vgl. § 36 PolG/AG). Gemäß Datenschutzgesetz können zwar öffentliche Straßen mit optisch-elektronischen Anlagen überwacht werden, doch bedarf es dazu einer Bewilligung der Datenschutzbeauftragten (vgl. § 20 IDAG/AG). Eine solche Bewilligung gibt es vorliegend jedoch schlicht nicht und würde es gemäß den Richtlinien der Datenschutzbeauftragten auch nicht geben (vgl. Merkblatt vom 05. August 2015). Auf unsere Nachfrage behauptet die kantonale Datenschutzbeauftragte entgegen ihrem eigenen Merkblatt, für Autobahnen seien die Bundesbehörden zuständig, was diese mit dem Hinweis kontern, soweit kantonale Organe wie hier die Daten erheben, sei der Kanton zuständig.

Dessen ungeachtet, verurteilt das erstinstanzliche Gericht unseren Mandanten gleich wegen aller angeklagter Delikte. Als Rechtsgrundlage für die Video-Überwachung zieht das Gericht fälschlicherweise die Straßenkontrollverordnung und allen Ernstes eine EG-Richtlinie heran. Unser ausländischer Mandant akzeptiert vorbehältlich der Anschlussberufung das Urteil, weil es in zwei wichtigen Punkten seinen Vorstellungen entspricht (dazu später mehr).

Anders schaut es übrigens aus, wenn die Polizei aus konkretem Anlass im Rahmen der Nachfahrkontrolle ein Video erstellt; diese Aufnahmen sind grundsätzlich verwertbar (vgl. Bundesgerichtsurteil 6B_1203/2019 vom 29. November 2019).

Mann in Schacht überfahren: fahrlässige Tötung?

In einem tragischen Verkehrsunfall kommt ein Bauarbeiter ums Leben, als er in einem offenen Schacht Messungen vornimmt. Unsere Mandantin übersieht in der ihr bestens bekannten Quartierstraße sowohl den offenen Schacht als auch den Mann, der gemäß forensischen Erkenntnissen beim Aufprall ca. 40 – 60 cm über die Straßenfläche herausschaut. Sie vernimmt ein Rumpeln, fährt rückwärts und sieht nach ihren Angaben nichts Außergewöhnliches. Daher fährt sie weiter, ohne sich um das Opfer zu kümmern.

Nach einem umfangreichen Vorverfahren mit Tatrekonstruktion und Visualisierung erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) und qualifizierter Führerflucht (Art. 92 Abs. 2 SVG). Wir sind der Auffassung, dass der Kausalverlauf und der Tod eines Menschen für die Lenkerin nicht vorhersehbar gewesen ist. Außerdem hat sie an der anspruchsvollen Kreuzung mit starker Neigung und Unübersichtlichkeit nichts falsch gemacht, erst recht nicht, weil die kleine Baustelle überhaupt nicht gesichert oder gekennzeichnet war. Und wenn nicht erwiesen ist, ob der Mann für die Beschuldigte überhaupt irgendwann sichtbar war, hätte sie den Unfall nicht verhindern können.

Das Gericht sieht es anders und verurteilt die Lenker zu 12 Monaten Freiheitsstrafen auf Bewährung. Überdies muss sie der Witwe des Mannes eine Genugtuung bezahlen. Die Lenkerin akzeptiert das erstinstanzliche Urteil.

Über den Fall berichteten die Zeitung und das Lokalfernsehen.

Rotlicht überfahren als mittelschwere Widerhandlung

A. ist ein vorsichtiger Autofahrer. An einem schönen Sommerabend wird er an einer ihm unbekannten Kreuzung von der tief stehenden Sonne geblendet, so dass er das Lichtsignal nicht wahrnimmt und schon gar nicht erkennt, dass die Ampel auf rot steht. Weil er sich aber bewusst ist, dass er sich auf einer Kreuzung befindet, befährt er diese äußerst vorsichtig. Dennoch kommt es zu einem kleinen Unfall mit Sachschaden, den die Beteiligten auf der Stelle ohne die Polizei regulieren.

Die Polizei kommt aber trotzdem ins Spiel, weil eine Überwachungskamera den Vorfall filmt. A. hat die Kreuzung demnach in der Rotphase  17,8 Sekunden nach dem Lichtwechsel überfahren. A. wird deshalb  mittels Strafbefehl wegen einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Auf unser Anraten akzeptiert A. den Strafbefehl, namentlich weil dieser zurückhalten formuliert ist und A. ausdrücklich eine bloß fahrlässige Begehung vorwirft.

Statt dessen konzentrieren wir uns aufs anschließende Administrativverfahren vor dem Straßenverkehrsamt. In der Schweiz müssen wir immer noch mit dem fragwürdigen Dualismus von Straf- und Administrativverfahren leben, wenn wir gegen Bestimmungen des Straßenverkehrsgesetzes verstoßen (vgl. immerhin neu Art. 67e StGB betr. Fahrverbot). Als das Straßenverkehrsamt einen Fahrausweisentzug von 3 Monaten wegen einer schweren Widerhandlung nach Art. 16c SVG ankündigt, reichen wir für A. im Rahmen des rechtlichen Gehörs eine Eingabe ein. Wir stellen uns auf den Standpunkt, A. habe die Tat nicht mit grobem Verschulden begangen und er habe keine ernstliche Gefahr für andere geschaffen. Insbesondere fehle es an dem für die Annahme einer schweren Widerhandlung erforderlichen rücksichtslosen Verhalten, nachdem sich A. mit seinem Personenwagen in Schritttempo auf die Kreuzung vorgetastet habe. Daher sei der Vorfall aus verwaltungsrechtlicher Optik ausnahmsweise als mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b SVG zu würdigen, was mit einem Entzug von 1 Monat zu ahnden sei.

Das Straßenverkehrsamt des Kantons Zürich schließt sich dieser Auffassung an. A. wird, weil er wegen seines Berufes nachweislich Auto fahren muss, die Fahrerlaubnis für die minimale Dauer von 1 Monat entzogen, auf Wunsch während der Sommerferienzeit.

Raser verlieren ihr Auto nicht in jedem Fall

Auf Schweizer Landstraßen gilt eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. Wer 60 km/h zu schnell fährt, also 140 km/h oder noch schneller unterwegs ist, gilt als „Raser“. Er begeht gemäß Gesetz „in jedem Fall“ eine „besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit“ und wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis vier Jahre bestraft (Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 SVG). Das Bundesgericht anerkennt immerhin nach anfänglichem Zögern, dass „in jedem Fall“ nicht ungeachtet eines ausnahmsweise fehlenden Vorsatzes die harte Bestrafung nach sich ziehen darf (BGE 142 IV 137 ff.).

Unser Mandant wird abzüglich der Toleranz außerorts mit genau 140 km/h geblitzt. Das Fahrzeug ist zwar auf seinen Namen zugelassen, doch es wird zur Hauptsache von der Ehefrau als Familienauto genutzt, weil der Mandant normalerweise mit seinem Geschäftsauto herumfährt. Dennoch beschlagnahmt die Staatsanwaltschaft vorliegend das Fahrzeug als Tatwerkzeug standardmäßig zur Sicherstellung seiner möglichen späteren Einziehung durch das Gericht (Art. 90a SVG; Art. 263 StPO).

Der Mandant ist geständig. Wir können durch Einwilligung ins abgekürzte Verfahren bei der Staatsanwältin erreichen, dass das Fahrzeug nach wenigen Wochen freigegeben und der Ehefrau des Mandanten ausgehändigt wird. Außerdem erhält unser Mandant die minimale Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine happige Buße dazu (Art. 42 Abs. 4 StGB). Das Gericht akzeptiert schließlich den „Deal“ (Art. 362 StPO).

(Foto: Autos im Hochland bei Emstrur, Island, Stefan Meichssner, August 2017)