Keine zweitinstanzliche Verurteilung ohne mündliches Berufungsverfahren?

Es freut uns, dass wir das Bundesgericht zu einem Leitentscheid bewegen konnten.

Am 28. Oktober 2020 entschied es nach einer öffentlichen Urteilsberatung im Urteil 6B_973/2019, dass die beschuldigte Person auf ein mündliches Berufungsverfahren nicht gültig verzichten kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür nicht gegegeben sind. Außerdem stellte das oberste Gericht klar, dass für einen Verzicht auf eine grundsätzlich mündliche Berufungsverhandlung die Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 StPO – erstinstanzliches Urteil eines Einzelrichters und unnötige Anwesenheit der beschuldigten Person insbesondere zwecks persönlicher Befragung – kumulativ erfüllt sein müssen.

Im konkreten Fall war wesentlich, dass das Berufungsgericht die Beschuldigte auf Berufung der Staatsanwaltschaft in einem schriftlichen Berufungverfahren der Sachbeschädigung schuldig sprach, nachdem das erstinstanzliche Gericht einen Freispruch ausgesprochen hatte.

Familiennachzug dank Übergangsrecht

Ausländer A. mit Niederlassungsbewilligung bezieht wegen eines Geburtsgebrechens eine IV-Rente und erhält zusätzlich Ergänzungsleistungen. Er heiratet in seinem Heimatland und beantragt im Oktober 2018 für seine Ehefrau als Drittstaatenangehörige eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs. Das Amt für Migration und Integration verweigert den Familiennachzug mit dem Hinweis auf den Bezug von Ergänzungsleistungen durch den nachziehenden A. (vgl. Art. 43 Abs. 1 Bst. e Ausländer- und Integrationsgesetz [AIG]).

Wir setzen uns für A. zunächst erfolglos mit Einsprache (vgl. § 7 f. EGAR) und anschließend erfolgreich mit Beschwerde (vgl. § 9  EGAR; §§ 54 ff. VRPG) beim Verwaltungsgericht ein.

Dieses teilt unsere Auffassung, wonach das Gesuch vom Oktober 2018 noch nach altem Recht zu beurteilen sei, unabhängig vom Zeitpunkt des Entscheids. Entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der Weisungen des SEM zum Ausländerbereich (Weisungen AIG, Ziff. 3.4.4 Fassung 01. November 2019) sei gemäß der spezialgesetzlichen Übergangsbestimmung von Art. 126 Abs. 1 AIG das Recht im Zeitpunkt der Einreichung des Familiennachzugsgesuchs maßgebend. Das bis 31. Dezember 2018 geltende Recht knüpfte den Familiennachzug noch nicht an fehlende EL-Bezüge (vgl. Art. 43 Abs. 1 AuG). Da außerdem die übrien Voraussetzung erfüllt seien, namentlich keine bestehende oder zu befürchtende Sozialhilfeabhängigkeit (vgl. Art. 62 Abs. 1 Bst. e AIG), habe A. Anspruch auf Familiennachzug.