Sexuelle Belästigung durch Berührungen

Ob ein Verhalten allgemein als unständig empfunden wird oder ob es die Schwelle zum strafrechtlich Verbotenen überschreitet, ist nicht immer einfach zu beurteilen. In unserem Fall ist es aber klar: Durch Ausfragen zum Sexleben und durch körperliche Zudringlichkeiten mit Berührungen am Hintern und an den Brüsten ist die Schwelle zu sexuellen Handlungen (vgl. Art. 187 StGB) eindeutig nicht überschritten. Die Anklage lautete nur deshalb auf sexuelle Handlungen mit einem Kind, weil dieses die Antragsfrist von drei Monaten (vgl. Art. 31 StGB) für die möglichen sexuellen Belästigungen (Antragsdelikt: vgl. Art. 198 StGB) verpasst hatte. Die Vorfälle zwischen Großvater und Enkelin sollen im Sommer 2021 erfolgt sein, Anzeige/Strafantrag erstattete die 15-Jährige jedoch erst mehr als ein halbes Jahr später.

Als sexuelle Handlungen im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 bzw. Art. 189 Abs. 1 StGB gelten nur Verhaltensweisen, die für den Außenstehenden nach ihrem äußeren Erscheinungsbild einen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen und im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut erheblich sind. Entscheidend für die Beurteilung der Erheblichkeit sind qualitativ die Art und quantitativ die Intensität und Dauer der Handlung, wobei die gesamten Begleitumstände zu berücksichtigen sind. Während das Küssen auf Mund, Wangen usw. in der Regel keine sexuelle Handlung darstellt, werden Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern als sexuelle Handlung qualifiziert.

Wird die Schwelle der Erheblichkeit nicht erreicht, kann eine sexuelle Belästigung vorliegen. Gemäß Art. 198 Abs. 2 StGB macht sich der sexuellen Belästigung schuldig, wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt. Die Bestimmung erfasst geringfügigere Beeinträchtigungen der sexuellen Integrität. Es handelt sich um qualifiziert unerwünschte sexuelle Annäherungen bzw. um physische, optische und verbale Zumutungen sexueller Art. Aus dem Merkmal der Belästigung ergibt sich, dass das Opfer in diese weder eingewilligt noch sie provoziert haben darf. Die tätliche Belästigung gemäss Art. 198 Abs. 2 StGB setzt eine körperliche Kontaktnahme voraus. Dazu genügen bereits wenig intensive Annäherungsversuche oder Zudringlichkeiten, solange sie nur nach ihrem äußeren Erscheinungsbild sexuelle Bedeutung haben. Hierunter fallen neben dem überraschenden Anfassen einer Person an den Geschlechtsteilen auch weniger aufdringliche Berührungen wie das Antasten an der Brust oder am Gesäß, das Betasten von Bauch und Beinen auch über den Kleidern, das Anpressen oder Umarmungen. Zu berücksichtigen ist, ob dem Opfer zugemutet werden kann, sich der Belästigung zu entziehen, was am Arbeitsplatz oder an ähnlichen Örtlichkeiten in der Regel weniger einfach ist als etwa in öffentlichen Lokalitäten (vgl. Urteil des Bundesgericht 6B_1102/2019 vom 28. November 2019; vgl. auch BGE 137 IV 263 E. 3.1).

Angesichts dieser Rechtsprechung sprach das Gericht unseren Mandanten frei.

Veruntreuung oder unrechtmäßige Aneignung?

In unserem aktuellen Fall konnten wir einen Beschuldigten verteidigen, welcher der Veruntreuung im Sinne von Art. 138 Ziff. 1 StGB in Mittäterschaft mit seiner Partnerin angeklagt war. Die beiden sollen Gold und Geld, das die Frau von ihrem Stiefvater zur Aufbewahrung anvertraut erhalten hatten, entgegen dessen Aufforderung nicht zurückgegeben haben. Vielmehr sollen sie dem Stiefvater ein Paket mit Steinen ins Tessin geschickt haben.

Über die erstinstanzliche Hauptverhandlung berichtete auch die Zeitung (vgl. Beitrag in der Aargauer Zeitung vom 18. September 2020). Die Mitbeschuldigten argumentierten, die Stieftochter hätte die Vermögenswerte im Kontext mit familiären Problemen geschenkt erhalten, so dass gar keine Pflicht zur Rückgabe bestanden habe. Dies glaubte ihnen das Gericht jedoch nicht. Weil aber die Frau gleichzeitig aussagte, irgendwann habe sie klein beigegeben und den Mann mit der Rücksendung beauftragt, wurde sie freigesprochen. Der Mann hingegen wurde wegen unrechtmäßiger Aneignung gemäß Art. 137 Ziff. 1 StGB schuldig gesprochen. Das Gericht sah bei ihm zwar entgegen der Staatsanwaltschaft keine Treuepflicht gegenüber dem Stiefvater der Frau und verurteilte ihn deshalb aufgrund des Auffangtatbestandes von Art. 137 Ziff. 1 StGB wegen unrechtmäßiger Aneignung.

Auf Berufung hin bestätigte das Obergericht diesen Schuldspruch. Weil die Staatsanwaltschaft selbst keine Berufung eingelegt hatte, konnte das Obergericht immerhin entgegen seinem erklärten Wille keine höhere Strafe aussprechen (sog. Verschlechterungsverbot / Verbot der reformatio in peius; Art. 391 Abs. 2 StPO). Das erstinstanzliche Gericht hatte „nur“ eine bedingte Geldstrafe ausgesprochen, während die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von 11 Monaten gefordert hatte.

Sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen der unrechtmäßigen Aneignung seien, so das Berufungsgericht, beim Beschuldigten erfüllt. So habe er seinen Aneignungswillen klar kundgetan, indem er das Gold und Geld entgegen der Aufforderung seiner Frau nicht zurückgeschickte, sondern im Gegenteil weiter versteckte und die Frau im Ungewissen ließ. Der Beschuldigte habe den Geschädigten dauerhaft enteignen und sich mindestens vorübergehend bereichern wollen. Trotz des auffallend langen Zuwartens des Stiefvaters mit seiner Anzeige, des offensichtlichen Streits zwischen den Stieftöchtern, der fehlenden Belege und weiterer Widersprüche in den Aussagen des Stiefvaters gehen beide Instanzen davon aus, dass er die Vermögenswerte nicht geschenkt hatte.

Dass letztlich der Beschuldigte als Alleintäter wegen einer anderen Tat als der angeklagten zu Lasten seiner Frau verurteilt worden ist, wie wir vorbringen, verwarf das Obergericht (vgl. Anklagegrundsatz; Art. 9 StPO).

 

Landesverweisung für Angriff, aber nicht für Raufhandel

Nicht selten kommt es vor, dass die potentielle Strafe für den Täter zweitrangig ist. Er fürchtet sich oft mehr vor anderen Folgen einer Verurteilung, z.B. im Falle eines Ausländers vor einer Landesverweisung.

Die Landesverweisung zu verhindern ist in vielen Fällen oberstes Ziel, noch vor einer milden Strafen oder eines Freispruchs, so auch im Fall unseres Mandanten X. Dieser ließ sich in eine alte Familienfehde hineinziehen und „musste“ seinem Onkel beistehen, der seit Jahrzehnten im Streit mit einem anderen Mann stand und diesen eines Abends zur Rede stellen wollte. Dieses Vorhaben mündete in einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen den zwei Gruppen mit X., dem Onkel und weiteren Beteiligten auf der einen und dem Mann und einem Kollegen auf der anderen Seite. Die Anklage forderte einen Schuldspruch wegen Angriffs gemäß Art. 134 StGB und eine 5-jährige Landesverweisung für den Drittstaatenangehörigen X. nach Art. 66a Abs. 1 Bst. b StGB inkl. Ausschreibung im Schengener Informationssystem SIS. Angriff ist eine so genannte Katalogtat und hat vorbehältlich eines Härtefalles für ausländische Staatsangehörige die obligatorische Landesverweisung zur Folge.

Die Verteidiger der „angreifenden“ Gruppe bringen vor Gericht nebst formellen Einwänden zur Verwertbarkeit verschiedener Beweismittel übereinstimmend vor, die Tat könne, wenn schon, höchstens als Raufhandel im Sinne von Art. 133 StGB gewertet werden.

Das Gericht bejaht die dafür erforderliche Körperverletzung beim „Angegriffenen“ als objektive Strafbarkeitsvoraussetzung, obwohl er keinerlei Arztberichte vorlegt, keine Arbeitsunfähigkeit, sondern nur etwas Schmerzen behauptet und lediglich ein paar Prellungen aktenkundig sind. Immerhin sieht das Gericht in dem nicht gänzlich passivem Verhalten der „Angegriffenen“ entgegen der Staatsanwaltschaft und in Übereinstimmung mit dem Eventualstandpunkt der Verteidiger einen Raufhandel (vgl. dazu Bundesgerichtsurteil 6B_1257/2020, E. 2.1).

Mit dem entsprechenden Schuldspruch „nur“ wegen Raufhandels ist die (obligatorische) Landesverweisung beim an sich gut integrierten und vorstrafenfreien X. vom Tisch. Sie wäre auch deshalb problematisch gewesen, weil X. mit einer EU-Ausländerin verheiratet ist und der Automatismus gemäss Art. 66a ff. StGB gemäß übergeordnetem Recht keine Anwendung finden dürfte (vgl. dazu BGE 146 IV 172, 183 E. 3.3.5; BGE 145 IV 364, 371 ff. E. 3.5.2).

Alle Parteien akzeptieren das erstinstanzliche Urteil.

Nacktbilder sind keine Pornographie

In unserem Fall wird dem Beschuldigten u.a. vorgeworfen, Nacktbilder seiner Ex-Freundin mit den erkennbaren Genitalien im Internet veröffentlicht zu haben.

Zur Verteidigung wenden wir ein, dass Nacktbilder isoliert betrachtet keine Pornographie darstellten. Es handelt sich nicht um eine Darstellung sexuellen Inhalts, die sexuelles Verhalten losgelöst von menschlichen Bezügen und ausgerichtet auf die Erregung geschlechtlicher Erregung beinhaltet. Die bloße Darstellung des Sexualorgans einer erwachsenen Person ohne Einbezug in eine sexuelle Handlung und ohne entwürdigende Darstellungsweise stellt keine Pornographie i.S.v. Art. 197 StGB dar. Außerdem ist die Plattform, auf der die Bilder zu sehen sind, von Anfang an einschlägig, so dass der Nutzer gewollt und nicht unerwünscht mit den Bildern konfrontiert wird, weshalb die Tatbestandsmäßigkeit entfallen muss.

Das Gericht spricht den Beschuldigten aufgrund des zweiten Arguments frei, da der Schutzzweck von Art. 197 Abs. 2 StGB vor ungewollter Konfrontation mit Sexuellem schütze. Darunter falle jedoch nicht der Nutzer einschlägiger Seiten, der diese gerade wegen des sexuellen Inhalts besucht.

Ein Schuldspruch erfolgt hingegen wegen anderer Tatbestände.

Keine zweitinstanzliche Verurteilung ohne mündliches Berufungsverfahren?

Es freut uns, dass wir das Bundesgericht zu einem Leitentscheid bewegen konnten.

Am 28. Oktober 2020 entschied es nach einer öffentlichen Urteilsberatung im Urteil 6B_973/2019, dass die beschuldigte Person auf ein mündliches Berufungsverfahren nicht gültig verzichten kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür nicht gegegeben sind. Außerdem stellte das oberste Gericht klar, dass für einen Verzicht auf eine grundsätzlich mündliche Berufungsverhandlung die Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 StPO – erstinstanzliches Urteil eines Einzelrichters und unnötige Anwesenheit der beschuldigten Person insbesondere zwecks persönlicher Befragung – kumulativ erfüllt sein müssen.

Im konkreten Fall war wesentlich, dass das Berufungsgericht die Beschuldigte auf Berufung der Staatsanwaltschaft in einem schriftlichen Berufungverfahren der Sachbeschädigung schuldig sprach, nachdem das erstinstanzliche Gericht einen Freispruch ausgesprochen hatte.

Gebühren sind keine Zusatzstrafe

Das Bundesgericht ändert seine Praxis zu den Strafbefehlgsgebühren, die wir in einem Aufsatz im Forumpoenale Nr. 3/2020 kritisiert haben (vgl. Blog vom 09. Juni 2020). In einer zur amtlichen Publikation vorgesehenen Entscheidung vom 10. Juli 2020 in der Sache 6B_1430/2019 gibt die Strafrechtliche Abteilung ihre Rechtsprechung, wonach sich die Gebühren gemäß Art. 422 Abs. 1 StPO auch oder mitunter sogar vor allem am Strafmaß zu orientieren hätten, explizit und unter Hinweis auf den Aufsatz auf:

Erwägung 2.2.2: „(…) In der Lehre wird dieser Entscheid dahingehend kritisiert, dass das strafrechtliche Verschulden allein für die Strafzumessung von Bedeutung ist und sich die Gebühren nach dem Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip richten. Sinn und Zweck der Verfahrenskosten im Strafprozess sei die Abgeltung behördlichen Aufwands, nicht die zusätzliche Bestrafung für ein strafrechtliches Unrecht (NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rn. 2245; STEFAN MEICHSSNER, forum poenale 2020 S. 195 ff.).  
Die Gebühren im Sinne von Art. 422 Abs. 1 StPO dienen ausschliesslich der Deckung des Aufwands im konkreten Straffall. Die Berücksichtigung der Höhe der Sanktion – und damit des Verschuldens – führt zwangsläufig zu einer zusätzlichen Bestrafung, was unzulässig ist und dem Zweck der Gebührenerhebung widerspricht. Am Entscheid 6B_253/2019 vom 1. Juli 2019 kann deshalb nicht festgehalten werden. (…)“
Strafe und Gebühren sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe.

Gebühren 16mal höher als Buße

Wer strafrechtlich verurteilt wird, trägt grundsätzlich die Verfahrenkosten (vgl. Art. 426 Abs. 1 StPO).

Unklar ist, ob gestützt auf das Verhältnismäßigkeits- bzw. das Äquivalenzprinzip der Staat teilweise die Verfahrenskosten übernehmen soll, wenn sie in einem Missverhältnis zur eigentlichen Strafe stehen, z.B. die ausgesprochene Buße um ein Vielfaches übersteigen. Im konkreten Fall, in dem sich der studierte Beschuldigte vor erster Instanz noch selbst verteidigt hatte, verneint das Bundesgericht eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, auch wenn die Verfahrenskosten die Buße um das 16-fache übersteigen (Bundesgerichtsurteil 6B_11/2020 vom 24. Juni 2020).

Die erste Instanz hatte dem Beschuldigten die Kosten noch zum größten Teil erlassen, nachdem die Messungen offenkundig fehlerhaft waren und die Geschwindigkeit gutachterlich abgeklärt werden musste. Das erstinstanzliche Gericht hatte nachvollziehbar ausgeführt, die Gutachten seien nur deshalb nötig gewesen, weil die Geschwindigkeitsmessung entgegen der Herstelleangaben und Weisungen des ASTRA durchgeführt worden sei. Berufungsgericht und Bundesgericht erblicken in der ursprüngich mangelhaften Messung bzw. Dokumentation des Sachverhalts indes keine fehlerhafte Verfahrenshandlung der Behörden (vgl. Art. 426 Abs. 3 Bst. a StPO).

Die Rechtsprechung ist für den Bürger etwas frustierend, weil nur das Resultat zählt und er für Behördenfehler geradestehen muss.

Selbst wenn der Verurteilte übrigens erfolgreich eine tiefere Strafe erwirkt, trägt er nach der Rechtsprechung die Kosten des Rechtsmittelverfahrens, weil er eben immer noch „verurteilt“ wird.

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Mit Einspracherückzug der Staatsanwaltschaft zuvorgekommen

Unser Klient erhält einen Strafbefehl, mit dem er für diverse Straftaten zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Weil er die Straftaten während der Probezeit für frühere Verurteilungen begangen hat, handelt es sich um eine unbedingt ausgefällte Gesamtstrafe. Nachdem wir an der Schuldfähigkeit Zweifel haben, erheben wir Einsprache gegen den Strafbefehl, lassen uns zum amtlichen Verteidiger ernennen und beantragen die gutachterliche Abklärung der Schuldfähigkeit (Art. 20 StGB).

Nach Vorliegen des Gutachtens stellt uns dieses die Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme zu. Das Gutachten verneint wenig überraschend die Schuldfähigkeit komplett. Weil der Klient jedoch unter keinen Umständen in die gutachterlich vorgeschlagene stationäre Maßnahme unbekannter Dauer will, ziehen wir die Einsprache zurück. Das will nun die Staatsanwaltschaft nicht akzeptieren und sie stellt mittels Verfügung die Wirkungslosigkeit der Einsprache fest.

Die dagegen erhobene Beschwerde (vgl. Art. 393 ff. StPO) heißt die Beschwerdekammer des Obergerichts gut. Es schließt sich unserer Auffassung an, wonach die Einsprache solange zurückgezogen werden kann, bis sich die Staatsanwaltschaft gemäß Art. 355 Abs. 3 StPO gegen eine Anklage entschieden hat. Würde sie, was dem Normalfall entspricht, mittels Überweisung Anklage erheben, könnte die Einsprache sogar noch an der Hauptverhandlung vor dem erstinstanzlichen Gericht zurückgezogen werden (vgl. Art. 356 Abs. 3 StPO). Hier war wohl ein Antrag auf ein selbständiges Maßnahmeverfahren gegen Schuldunfähige naheliegend (vgl. Art. 374 f. StPO), doch hatte sich die Staatsanwaltschaft dazu im Zeitpunkt des Einspracherückzugs noch gar nicht entschieden. Die Staatsanwaltschaft machte nichts anderes als ihre ursprünglich fehlerhafte Verfügung (Strafbefehl trotz Schuldunfähigkeit) in Wiedererwägung zu ziehen, was im Strafprozessrecht grundsätzlich nicht zulässig ist.

Unvoreingenommener Richter nach Rückweisung

Jede Person hat in einem gerichtlichen Verfahren Anspruch darauf, dass seine Streitsache von einem unbefangenen, unvoreingenommenen und unparteiischen Richter beurteilt wird (Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Die an einem Verfahren beteiligte Partei soll die Garantie haben, dass keine sachfremden Umstände, die außerhalb des Prozesses liegen, auf sachwidrige Art und Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf das Urteil einwirken. Die Garantie ist verletzt, wenn objektiv betrachtet Umstände vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss in objektiver Weise begründet erscheinen; das subjektive Empfinden einer Partei ist nicht entscheidend (vgl. BGE 144 I 159, 162 E. 4.3).

Die Mitwirkung eines Richters an einer Neubeurteilung, nachdem die obere Instanz ihr erstes Urteil aufgehoben hat, bewirkt grundsätzlich keine Voreingenommenheit im Sinne einer unzulässigen Mehrfachbefassung (vgl. Art. 47 Abs. 1 Bst. b ZPO; BGer 1B_94/2019 vom 15. Mai 2019 E. 2.4). Nur ausnahmsweise ist objektiv das Vertrauen in die Unparteilichkeit zerstört, wenn die Gerichtsperson durch ihr Verhalten oder durch Bemerkungen klar zum Ausdruck gebracht hat, dass sie nicht willens oder fähig ist, von ihrer früheren Auffassung, die von der oberen Instanz zurückgewiesen wurde, Abstand zu nehmen und die Sache unbefangen neu zu beurteilen (vgl. BGE 138 IV 142, 146 E. 2.3).

Im vorliegenden Urteil vom 04. März 2020 (4A_524/2019) verneint das Bundesgericht mit Bezug auf das Handelsgericht des Kantons Aargau eine Befangenheit eines Richters und seines Gerichtsschreibers, die nach Rückweisung durch das Bundesgericht einem der beteiligten Anwälte Kostenfolgen für den Fall angedroht haben, dass er vollmachtlos handeln würde. Dass ein weiterer Anwalt, der später dazugestoßen war, „vergessen“ gegangen ist, kann angesichts des dicken Aktendossiers gemäß Bundesgericht nicht den Anschein der Befangenheit wecken, erst recht nicht, weil das Verfahren auf die Frage der rechtsgültigen Vertretung nach ausländischem Recht beschränkt ist.