KTG-Versicherer darf nicht immer Berufswechsel verlangen

Hat der Arbeitgeber eine kollektive Krankentaggeldversicherung für seine Angestellten abgeschlossen, lösen im Krankheitsfall Versicherungsleistungen die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers ab. Gegenüber dem Versicherer muss der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Diese bezieht sich auf seine arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit (sog. angestammte Tätigkeit). In Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung (vgl. 243 ZPO) gelten Arztzeugnisse und fachärztliche Berichte beweisrechtlich bloss als Parteigutachten, welche als Bestandheil der Parteivorbringen und nicht als eigentliche Beweismittel gelten (vgl. BGE 140 III 16). Als Parteivorbringen können sie jedoch allenfalls zusammen mit Indizien Beweis erbringen (vgl. BGE 141 III 433). Will der KTG-Versicherer die Taggeldzahlungen einstellen, weil die angestammte Tätigkeit zwar medizinisch nicht mehr zumutbar ist, eine körperlich angepasste Tätigkeit aber sehr wohl, stellt sich die Frage der Schadenminderungspflicht (vgl. Art. 38a VVG). Nach Art. 38a VVG muss der Anspruchsberechtigte nach Eintritt des befürchteten Ereignisses tunlichst für Minderung des Schadens sorgen. Zur Erfüllung der Schadenminderungsobliegenheit kann ein Berufswechsel notwendig sein. Macht der Versicherer einen Berufswechsel geltend, muss er dies aber zuerst dem Versicherten mitteilen und eine angemessene Frist setzen, damit dieser sich anpassen und eine Stelle finden kann. Dabei reicht – anders als bei der Invalidenversicherung – ein Verweis auf die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit und/oder den sog. ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht. Entscheidend ist, welche reellen Chancen der Versicherte unter Berücksichtigung seines Alters und der Situation auf dem Arbeitsmarkt hat, eine gesundheitlich angepasste Arbeit zu finden. Zusätzlich muss geprüft werden, ob ein Berufswechsel unter Berücksichtigung der Ausbildung, der Arbeitserfahrung und des Alters dem Versicherten tatsächlich zugemutet werden kann. Im von uns vor Versicherungsgericht vertretenen Fall konnte der Versicherte beweisen, dass er für eine längere als vom Versicherer behaupteten Periode vollständig arbeitsunfähig war und die Frist für einen zumutbaren Berufswechsel erst später als vom Versicherer behauptet, einsetzen konnte. Der Versicherte konnte somit für einen längeren Zeitraum Leistungen beziehen.

Betreuungsentschädigung für krankes Kind bei Geburtsgebrechen

Verunfallt oder erkrankt ein Kind schwer, haben die Eltern unter Umständen Anspruch auf eine Entschädigung für den durch die Betreuung des Kindes verursachten Erwerbsausfall. Anspruch auf Betreuungsentschädigung haben gemäss. Art. 16n Abs. 1 EOG Eltern eines minderjährigen Kindes, das wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigt ist, wenn sie die Erwerbstätigkeit für die Betreuung des Kindes unterbrechen und im Zeitpunkt der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit Arbeitnehmende sind oder im Betrieb des Ehemanns oder der Ehefrau mitarbeiten und einen Barlohn beziehen (vgl. Art. 10 ATSG). Gemäss Art. 16o EOG ist ein Kind gesundheitlich schwer beeinträchtigt, wenn eine einschneidende Veränderung seines körperlichen oder psychischen Zustands eingetreten ist (lit. a), der Verlauf oder der Ausgang dieser Veränderung schwer vorhersehbar ist oder mit einer bleibenden oder zunehmenden Beeinträchtigung oder dem Tod zu rechen ist (lit. b), ein erhöhter Bedarf an Betreuung durch die Eltern besteht (lit. c) und mindestens ein Elternteil die Erwerbstätigkeit für die Betreuung des Kindes unterbrechen muss (lit. d). Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Für die Betreuungsentschädigung gilt eine Rahmenfrist von 18 Monaten (vgl. Art. 16p EOG). Die Rahmenfrist beginnt mit dem Tag, für den das erste Taggeld bezogen wird. Der Anspruch entsteht, wenn die Voraussetzungen nach Art. 16n EOG erfüllt sind. Er endet nach Ablauf der Rahmenfrist oder nach Ausschöpfung der Taggelder. Er endet vorzeitig, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind; er endet jedoch nicht vorzeitig, wenn das Kind während der Rahmenfrist volljährig wird. Die Betreuungsentschädigung wird als Taggeld ausgerichtet (vgl. Art. 16q EOG). Innerhalb der Rahmenfrist besteht Anspruch auf höchstens 98 Taggelder. Pro fünf Taggelder werden zusätzlich zwei Taggelder ausgerichtet. Sind beide Eltern erwerbstätig, so hat jeder Elternteil Anspruch auf höchstens die Hälfte der Taggelder; eine abweichende Aufteilung ist wählbar. Das Taggeld beträgt 80 Prozent des durchschnittlichen Erwerbseinkommens, das vor Beginn des Anspruchs auf die Betreuungsentschädigung erzielt wurde (vgl. Art. 16r EOG). Wichtig bei vorhandenem Geburtsgebrechen: Das Vorliegen einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung setzt unter anderem voraus, dass eine einschneidende Veränderung des körperlichen oder geistigen Zustandes des Kindes eingetreten ist (vgl. Art. 16o lit. a EOG). Leidet das betroffene Kind bereits an einem Geburtsgebrechen, muss im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen bzw. der Behinderung des Kindes eine akute Verschlechterung des körperlichen oder psychischen Zustandes eintreten, z.B. zusätzlich zur vorhandenen Autismus-Spektrum-Störung eine akute Verschlechterung hinzukommen, indem das Kind etwa nicht nur bestimmte, sondern neu sämtliche Nahrungsmittel ablehnt. Dazu sind entsprechende Einschätzungen der behandelnden Ärzte unerlässlich. Aus deren Berichten muss eindeutig hervorgehen, dass z.B. durch eine akute Nahrungsverweigerung eine akute lebensbedrohliche Veränderung mit schwer vorhersehbarem Verlauf eingetreten ist oder dass mit einer bleibenden oder zunehmenden Beeinträchtigung oder dem Tod zu rechnen ist.

Keine Landesverweisung bei Härtefall

Unserer Mandantin wird vorgeworfen, sie hätte während rund zwei Wochen unrechtmässig zu viel Taggelder der Arbeitslosenversicherung in der Höhe von 1372,60 Franken bezogen. Auf dem entsprechenden Formular habe sie als Beginn der neuen Stelle den 1. März angegeben, obwohl sie diese tatsächlich bereits am 14. Februar angetreten habe. Die Staatsanwaltschaft klagt sie des Betruges i.S.v. Art. 146 StGB an, fordert eine bedingte Geldstrafe, eine Verbindungsbusse sowie 5 Jahres Landesverweisung. Sie sieht in dem Vorgehen eine arglistige Täuschung. Wie von uns verlangt, sieht das Gericht von der Landesverweisung ab. Zwar bildet der Betrug eine sog. Katalogtat i.S.v. Art. 66a StGB, für die für mindestens 5 Jahre die Landesverweisung ausgesprochen werden muss. Davon kann nur ausnahmsweise abgesehen werden, wenn die Landesverweisung einen schweren persönlichen Härtefall für den Verurteilten bedeuten würde und sein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz das öffentliche an der Fernhaltung überwiegen. In unserem Fall liegt eine sehr gute Integration der Drittstaatenangehörigen vor, die mit 10 Jahren in die Schweiz gekommen ist, hier die Schule und Ausbildung abgeschlossen hat, verheiratet ist, drei Kinder betreut, arbeitet und schuldenfrei lebt. Zudem erscheint ihr Verschulden gering und hat die ALV den Betrag längstens verrechnet.

Handy nicht immer verwertbar

Die Verwertung der Daten auf dem Mobiltelefon wird heute in Strafverfahren fast standardmässig angeordnet. Dagegen kann man sich mit dem Argument wehren, die Daten oder Teile beträfen den Verkehr mit der Verteidigung, würden das im Verhältnis zum Strafverfahren höher zu wertende Persönlichkeitsrecht verletzen oder stammten aus dem Verkehr mit Personen, die über ein Zeugnisverweigerungsrecht verfügten (vgl. Art. 264 Abs. 1 StPO). In diesen Fällen kann der Beschuldigte die Siegelung verlangen, worauf die Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht (ZMG) innerhalb von 20 Tagen die Entsiegelung verlangen muss, will sie an der Auswertung festhalten (vgl. Art. 248 f. StPO). Es gibt aber noch ein anderes Argument gegen die Durchsuchung: Die Daten sind von vornherein nicht relevant für die Strafuntersuchung, werden zur „Wahrheitsfindung“ gar nicht gebraucht und stehen in keinem adäquaten Kausalzusammenhang mit den verfolgten Straftaten. Damit wird der sog. Deliktskonnex bestritten (vgl. BGE 137 IV 189, 195 E. 5.1).  In unserem Fall bezieht sich der dringende Tatverdacht von Anfang an auf eine klar umrissene Einbruchsserie in einem Quartier durch zwei befreundete Beschuldigte nach einer durchzechten Nacht. Nachdem alle Spuren ausgewertet, das Deliktsgut sichergestellt und die Beschuldigten geständig sind, fehlt es vorliegend am Deliktskonnex und das ZMG verweigert antragsgemäss die Entsiegelung. Es ist nicht anzunehmen, dass sich die beiden betrunkenen Beschuldigten via Social Media noch austauschten, bevor sie unmittelbar nach der Serie festgenommen worden waren. Auf diese Weise ist als angenehme Nebenerscheinung gleichzeitig die Gefahr von sog. Zufallsfunden gebannt, zu denen die Auswertung von Handydaten häufig führt.

Gehilfe als Täter

Unser Klient ist angeklagt des qualifizierten Handels mit Betäubungsmitteln, indem er willentlich und wissentlich die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr brachte (vgl. Art. 19 Abs. 1 lit. a BetmG). Obwohl er klar nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, wird er als Täter verurteilt. Es nützt ihm nichts, dass sein Kollege den Handel mit Kokain organisierte, die Drogen besorgte, mit den Abnehmern in Kontakt stand und unseren Klienten vor allem als Kurier einsetzte. Dieser wusste um die Machenschaften und nahm so am Handel teil. Zudem wohnte er zusammen mit seinem Kumpel.  Im Betäubungsmittelstrafrecht werden auch geringfügige Beteiligungen nicht milder als Gehilfenschaft oder Anstiftung bestraft. Vielmehr wird praktisch jeder, der irgendwie mitmacht, als „Täter“ betrachtet. Ab 20 Gramm reinen Kokains nimmt die Praxis grundsätzlich einen qualifizierten Fall an, der mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr geahndet wird (vgl. Art. 19 Abs. 1 lit. a BetmG). So kommt es denn auch in unserem Fall.

Mit Schwiegermutters Bankkarte Geld bezogen

Nachdem sich die Frau von ihrem Mann getrennt hat, kommt zum Vorschein, dass sie während Jahren unrechtmäßig Geld vom Konto der Schwiegermutter abgehoben hat. Die Deliktssumme beläuft sich je nach Betrachtungsweise auf 35.000 bis 210.000 Franken. Das Vorgehen ist, wie wir nachträglich rekonstruieren können, immer gleich: Die Frau arbeitet in der Zeitungsfrühzustellung und geht sehr früh arbeiten. Dabei behändigt sie sich der Bankkarte der Schwiegermutter und lässt am Bankomaten im Dorf regelmäßig Geldbeträge zwischen 50 und 500 Franken raus. Teilweise zahlt sie die Beträge gleich wieder auf das gemeinsame Konto ihres Mannes ein, um so ihre übermäßigen Ausgaben auszugleichen. Wir reichen für die Schwiergermutter zunächst Strafanzeige und später Privatklage ein. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage und das Gericht spricht die Frau wegen gewerbsmäßigen betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage schuldigt und verurteilt sie zu einer bedingten Freiheitsstrafe (vgl. Art. 147 Abs. 2 StGB). Da die Frau weitgehend geständig ist, anerkennt sie die Zivilklage in substantiellem Umfang.  Den Tatbestand erfüllt, wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmäßig zu bereichern, durch unrichtige, unvollständige oder unbefugte Verwendung von Daten oder in vergleichbarer Weise auf einen elektronischen oder vergleichbaren Datenverarbeitungs- oder Datenübermittlungsvorgang einwirkt und dadurch eine Vermögensverschiebung zum Schaden eines andern herbeiführt oder eine Vermögensverschiebung unmittelbar danach verdeckt. Weil ein „Computer“ kein Mensch ist, scheitert der Betrug, so dass dieser Tatbestand zum Zuge kommen kann.

Haftung für falsche behördliche Auskunft

Unser Mandant verkaufte im Jahr 2013 eine große Parzelle am Siedlungsrand. Die Käuferin verlangte von ihm die schriftliche Zusicherung im Kaufvertrag, wonach es sich bei der Parzelle um ein «voll erschlossenes Baugrundstück» handle und «keine Erschließungskosten mehr zu bezahlen sind». Der Mandant war zu dieser Zusicherung bereit, nachdem er und die Gemeinde seit langem von der vollständigen Erschießung Ausgegangen waren. Zudem hatte ihm der zuständige Gemeinderat in einer mündlichen Unterredung aus­drücklich zugesichert, dass das Gebiet erschlossen sei. Im Rahmen des anschließenden Baubewilligungsverfahrens urteilte nun allerdings die Beschwerdeinstanz, dass die Parzelle ungenügend erschlossen sei; insbesondere die Zufahrtsstraße sei zu schmal. Die Käuferin rügte beim Mandanten prompt, die gekaufte Parzelle sei mangelhaft und es fehle ihr die zugesicherte Eigenschaft der Erschließung. Nach langwierigen Verhandlungen konnten sich die Parteien einigen, dass der seinerzeitige Verkäufer der Käuferin die provisorisch festgelegten Erschließungskosten bezahlt und somit letztlich einen Teil des Kaufpreises zurückzahlt (ca. 7%). Parallel dazu versuchten wir, diese Kosten von der Gemeinde zurückzufordern. Als Anspruchsgrundlage kam eine Haftung wegen falscher Auskunft gestützt auf den verfassungsmäßigen Vertrauensschutz in Art. 9 BV. Unter folgenden Voraussetzungen ist das Vertrauen des Bürgers in eine falsche, d.h. gesetzeswidrige Auskunft einer Behörde geschützt: inhaltlich genügend bestimmte falsche Auskunft als Vertrauensgrundlage; Zuständigkeit der auskunftserteilenden Behörde; Vorbehaltlosigkeit der Auskunft; fehlende Erkennbarkeit der Unrichtigkeit und folglich Gutgläubigkeit des Anfragers; nachteilige Disposition aufgrund der falschen Auskunft; keine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage; überwiegendes Interesse am Schutz des Vertrauens gegenüber dem öffentlichen Interesse ab der richtigen Rechtsanwendung. Nachdem der Gemeinderat vorliegend unumwunden zugibt, eine falsche Auskunft erteilt zu haben, streiten die Parteien letztlich noch über die «nachteilige Disposition». Denn die Versicherung der Gemeinde trägt vor, unserem Mandanten sei gar kein Schaden entstanden. Er habe das Grundstück 2013 zu teuer verkauft und jetzt einfach die fehlende Erschließung nachträglich berappen müssen. Klar ist allen, dass eine eigentliche Bindung der Gemeinde an die Vertrauensgrundlage nicht in Frage kommt, d.h. das Grundstück muss ungeachtet der falschen Auskunft nachträglich korrekt erschlossen werden. Somit geht es noch um die Frage der nutzlosen Aufwendungen unseres Mandanten. In Frage kommt vorliegend nicht eine eigentliche Staatshaftung, sondern Vertrauenshaftung für rechtmäßiges staatliches Handeln. Zu ersetzen ist wohl nur der Schaden im Sinne des negativen Interesses, d.h. der Mandant ist so zu stellen, als ob die falsche Auskunft nie erteilt worden wäre. Zu Ende gedacht, hätte der Mandant selbst das Grundstück erschließen müssen und danach denselben Kaufpreis wie 2013 erhalten (zeitliche Dauer, Inflation etc. ausgeblendet). Letztlich hatte der Mandant also gar keine nutzlosen Aufwände wegen der falschen Auskunft, außer die Bemühungen des Anwalts wegen der Mängelrüge und zur Regulierung. Genau diese Kosten ist die Versicherung der Gemeinde bereit zu tragen (vgl. dazu Bundesgerichtsurteil 2C_960/2013).

Kosten trotz Einstellung des Strafverfahrens

Die Staatsanwaltschaft beschließt, das Vorverfahren gegen unseren Mandanten einzustellen. Weil die mutmaßlich geschädigte Person ihren Strafantrag zurückgezogen hat, kann bei den vorgeworfenen Antragsdelikten (konkret: Art. 179bis ff. StGB) eine Bestrafung nicht mehr erfolgen. Dadurch fehlt dauerhaft eine Prozessvoraussetzung (vgl. Art. 319 Abs. 1 Bst. b StPO).

Dennoch ist unser Mandant nicht ganz „reingewaschen“. Weil er durch sein Verhalten das Verfahren überhaupt erst veranlasst und die Geschädigte zum Stellen eines Strafantrags veranlasst hat, soll er einerseits einen Teil der Verfahrenskosten tragen und andererseits für seine Aufwendungen im Verfahren keine Entschädigung erhalten (vgl. Art. 426 Abs. 2 bzw. Art. 430 Abs. 1 Bst. a StPO). Diese Kostenregelung ist nicht unproblematisch und steht im Widerspruch zur Unschuldsvermutung (vgl. Art. 32 Abs. 1 BV; Art. 10 Abs. 1 StPO). Dennoch ist sie zulässig, wenn man dem Beschuldigten auf der zivilrechtlichen Ebene einen Vorwurf machen kann, d.h. der Vorwurf nicht auf ein strafrechtliches Verschulden abzielt. Dem Beschuldigten muss eine Verletzung von Art. 41 OR bzw. anderer zivilrechtlicher Normen wie Art. 28 ZGB oder weiterer Verhaltensnormen vorgeworfen werden können. Sein Verhalten muss das Strafverfahren veranlasst oder erschwert haben. Dabei darf sich die Kostenauflage lediglich auf unbestrittene oder bereits klar nachgewiesene Umstände stützen (vgl. Bundesgerichtsurteil 6B_1394/2021, E. 2.2; BGE 144 IV 202, E. 2.2).

In unserem Fall sind die Voraussetzungen für eine solche Kostenregelung ausnahmsweise erfüllt bzw. erklärt sich der Mandant von sich aus damit einverstanden.

Vgl. auch „Verwirkt der Entschädigungsanspruch des Freigesprochenen? „(Blogg 13. Juni 2021)

Aufsichtsanzeige als bloßer Rechtsbehelf

Jede Person kann jederzeit Tatsachen, die im öffentlichen Interesse ein Einschreiten von Amtes wegen gegen Behörden und deren Mitarbeitende erfordern, der Aufsichtsbehörde anzeigen (vgl. § 38 VRPG/AG). In unserem Fall hat dies X. selbst beim kantonalen Departement gemacht, um die Untätigkeit der kommunalen Bauverwaltung bzw. des Gemeinderates als Baupolizeibehörde zu rügen. Konkret geht es um eine Kleinbaute in der Nachbarschaft, die vor ein paar Jahren zu nahe an der Grenze und ohne Baubewilligung erstellt wurde.

Wir klären ihn über die Aufsichtsanzeige auf. Insbesondere ist die Aufsichtsanzeige kein förmliches Rechtsmittel, das dem Betroffenen Parteirechte einräumt. Wenn immer möglich, sollte daher eine Verfügung verlangt werden, die man anschließend mit Anspruch auf Behandlung weiterziehen kann. Denn der Entscheid über eine Aufsichtsanzeige kann mangels Parteirechten nicht mit Beschwerde (vgl. §§ 41 ff. VRPG/AG) angefochten werden, sondern dagegen kann wiederum nur Aufsichtsanzeige an die nächsthöhere Verwaltungsbehörde geführt werden.

Die Aufsichtsanzeige hat immerhin eine „gute“ Seite: Das Verfahren ist unentgeltlich, außer die Anzeige wäre leichtfertig oder böswillig eingereicht worden. Außerdem kann der Anzeiger eine „Beantwortung“ erwarten (vgl. § 38 Abs. 2 und Abs. 3 VRPG/AG).

Sexuelle Belästigung durch Berührungen

Ob ein Verhalten allgemein als unständig empfunden wird oder ob es die Schwelle zum strafrechtlich Verbotenen überschreitet, ist nicht immer einfach zu beurteilen. In unserem Fall ist es aber klar: Durch Ausfragen zum Sexleben und durch körperliche Zudringlichkeiten mit Berührungen am Hintern und an den Brüsten ist die Schwelle zu sexuellen Handlungen (vgl. Art. 187 StGB) eindeutig nicht überschritten. Die Anklage lautete nur deshalb auf sexuelle Handlungen mit einem Kind, weil dieses die Antragsfrist von drei Monaten (vgl. Art. 31 StGB) für die möglichen sexuellen Belästigungen (Antragsdelikt: vgl. Art. 198 StGB) verpasst hatte. Die Vorfälle zwischen Großvater und Enkelin sollen im Sommer 2021 erfolgt sein, Anzeige/Strafantrag erstattete die 15-Jährige jedoch erst mehr als ein halbes Jahr später.

Als sexuelle Handlungen im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 bzw. Art. 189 Abs. 1 StGB gelten nur Verhaltensweisen, die für den Außenstehenden nach ihrem äußeren Erscheinungsbild einen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen und im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut erheblich sind. Entscheidend für die Beurteilung der Erheblichkeit sind qualitativ die Art und quantitativ die Intensität und Dauer der Handlung, wobei die gesamten Begleitumstände zu berücksichtigen sind. Während das Küssen auf Mund, Wangen usw. in der Regel keine sexuelle Handlung darstellt, werden Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern als sexuelle Handlung qualifiziert.

Wird die Schwelle der Erheblichkeit nicht erreicht, kann eine sexuelle Belästigung vorliegen. Gemäß Art. 198 Abs. 2 StGB macht sich der sexuellen Belästigung schuldig, wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt. Die Bestimmung erfasst geringfügigere Beeinträchtigungen der sexuellen Integrität. Es handelt sich um qualifiziert unerwünschte sexuelle Annäherungen bzw. um physische, optische und verbale Zumutungen sexueller Art. Aus dem Merkmal der Belästigung ergibt sich, dass das Opfer in diese weder eingewilligt noch sie provoziert haben darf. Die tätliche Belästigung gemäss Art. 198 Abs. 2 StGB setzt eine körperliche Kontaktnahme voraus. Dazu genügen bereits wenig intensive Annäherungsversuche oder Zudringlichkeiten, solange sie nur nach ihrem äußeren Erscheinungsbild sexuelle Bedeutung haben. Hierunter fallen neben dem überraschenden Anfassen einer Person an den Geschlechtsteilen auch weniger aufdringliche Berührungen wie das Antasten an der Brust oder am Gesäß, das Betasten von Bauch und Beinen auch über den Kleidern, das Anpressen oder Umarmungen. Zu berücksichtigen ist, ob dem Opfer zugemutet werden kann, sich der Belästigung zu entziehen, was am Arbeitsplatz oder an ähnlichen Örtlichkeiten in der Regel weniger einfach ist als etwa in öffentlichen Lokalitäten (vgl. Urteil des Bundesgericht 6B_1102/2019 vom 28. November 2019; vgl. auch BGE 137 IV 263 E. 3.1).

Angesichts dieser Rechtsprechung sprach das Gericht unseren Mandanten frei.