Krankentaggeldversicherer darf nicht nur auf medizinisches Gutachten abstellen

Unser Mandant hatte viele Jahre bei demselben Arbeitgeber eine unqualifizierte Arbeit verrichtet, bevor er dauerhaft erkrankte und arbeitsunfähig wurde. Nachdem der Krankentaggeldversicherer ein paar Monate Taggelder gezahlt hatte, ließ er ein Gutachten erstellen. Dieses kam zum Schluss, der Versicherte sei zwar in seiner angestammten Arbeitstätigkeit nicht mehr, jedoch aus medizinischer Sicht in einer leicht wechselbaren Tätigkeit nach wie vor voll arbeitsfähig. Gestützt darauf kündigte der Krankentaggeldversicherer die Einstellung seiner Leistungen an.

Nachdem die Verhandlungen mit dem Versicherer über eine Fortführung der Krankentaggeldzahlungen ergebnislos verlaufen waren, reichten wir, vorfinanziert von einer Rechtsschutzversicherung, Klage gegen den Krankentaggeldversicherer beim kantonalen Versicherungsgericht ein (vgl. Art. 7 ZPO; § 64 VRPG/AG; § 14 EGZPO/AG; BGE 138 III 2 ff.). Wir brachten im Wesentlichen vor, die Krankentaggeldversicherung versichere eine ganz konkrete Tätigkeitkeit eines bestimmten Arbeitsverhältnisses (vgl. Arbeitsunfähigkeit: Art. 6 ATSG). Im Gegensatz zur Erwerbsunfähigkeit (vgl. Art. 7 ATSG) bzw. Invalidität (vgl. Art. 8 ATSG) seien daher nicht der ausgeglichene Arbeitsmarkt und medizinisch-theoretische Aussagen als Referenz heranzuziehen, sondern es sei konkret aufzuzeigen, ob und wie dem Versicherten bei lander Dauer ein konkreter Berufswechsel mit konkreten Verdienstmöglichkeit im bisherigen Umfang möglich und zumutbar sei. Solange dies der Versicherung nicht gelänge, habe sie die versicherten Leistungen weiterhin zu erbringen.

Der Versicherer verteidigte seine Ablehnung vor allem mit der Schadenminderungspflicht (sog. Rettungspflicht im Versicherungsrecht: Art. 61 VVG). Das Versicherungsgericht folgt dieser Argumentation indes nicht. Es ist der Auffassung, die bloße Bekanntgabe eines medizinisch-theoretischen Zumutbarkeitsprofils genüge nicht; der Versicherer hätte vielmehr auf dem konkreten Arbeitsmarkt real existierende Tätigkeiten benennen und die dortigen Verdienstmöglichkeiten mit dem bisherigen Einkommen des Versicherten vergleichen müssen.

Das Gericht heißt die Klage gut und spricht unserem Mandanten für die eingeklagte Periode die versicherten Taggelder zu. Somit erhält er für die gesamte versicherte Zeitspanne von 720 Tagen die vollen Leistungen.

Krankentaggelder und IV

Die Taggeldversicherung stellt ihre Leistungen ein, nachdem die Invalidenversicherung (IV) ihre Leistungspflicht mit Vorbescheid verneint hat. Grund ist, dass die IV eine volle medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit und keine genügende Erwerbseinbuße feststellt.

Die Taggeldversicherung richtet ihre Leistungen wieder aus, nachdem wir sie darauf hingewiesen haben, dass erstens keine Bindungswirkung zwischen dem IV-Entscheid und der Taggeldversicherung bestehe und dass sie sich zweitens nicht voraussetzungslos auf die Schadenminderungspflicht berufen kann.

Die Taggeldzahlungen darf ihre Leistungen nicht einzig mit Verweis auf den negativen IV-Entscheid einstellen. Anders als die IV, welche die Erwerbsunfähigkeit versichert und die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit von Anfang an berücksichtigt, ist die Taggeldversicherung an die Arbeitsfähigkeit gebunden, die sich auf die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit bezieht. Das medizinisch-theoretisch zumutbare Belastbarkeitsprofil darf die Taggeldversicherung erst nach langer Dauer der Arbeitsfähigkeit mitberücksichtigen. Die Taggeldversicherung darf sich nicht voraussetzungslos auf die Schadenminderungspflicht des Arbeitnehmers berufen. Sie muss dem Arbeitnehmer zu einem Berufswechsel auffordern und ihm eine angemessene Anpassungszeit einräumen. Dabei muss sie konkret zumutbare Stellen nennen und aufzeigen, dass diese auch tatsächlich verfügbar sind. Anders als die IV darf sie sich dabei nicht auf den ausgeglichenen, sondern muss sich auf den konkreten Arbeitsmarkt beziehen.

Auch nach Vollzug des Berufwechsels, also wenn der Arbeitnehmer eine neue Stelle gefunden hat, erlischt die Leistungspflicht der Taggeldversicherung nicht automatisch. Die Taggeldversicherung muss den Anspruch auf ein sogenanntes Resttaggeld prüfen, wenn der Arbeitnehmer in der neuen Stelle im Vergleich zur ursprünglichen (und versicherten) Stelle weniger verdient. Die höheren Anforderungen an die Schadenminderungspflicht sind unter anderem in der klar definierten und relativ kurzen Leistungsdauer begründet.