Leidensabzug in der Invalidenversicherung aufgegeben

Bei der Ermittlung des Invalideneinkommens verwendet die Invalidenversicherung (IV) Tabellenlöhne, wenn die versicherte Person kein effektives Erwerbseinkommen mehr erzielt.

Bis vor Kurzem bezweckte dabei der sogenannte leidensbedingte Abzug (auch Leidensabzug, Behinderungsabzug oder behinderungsbedingter Abzug genannt), die Tabellenlöhne für Personen zu korrigieren, die ihre gesundheitlich bedingte Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlich erwerblichem Erfolg verwerten können. Abzugsrechtlich relevant waren alle Einschränkungen, die zusätzlich zur medizinisch attestierten Arbeitsfähigkeit vorhanden sind (vgl. Bundesgericht, Urteil 9C_325/2013 E. 4.2; 9C_436/2011 E. 3.3).

Die Rechtsprechung definierte die einkommens­beein­flussenden Kriterien wie Lebensalter, Anzahl Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad. Der Abzug sollte nicht standardmäßig erfolgen und maximal 25% betragen. Die Rechtsprechung dazu war schwer zu überblicken. Die IV-Stellen verneinten regelmäßig den in ihrem Ermessen festzulegenden Abzug mit der Begründung, die Einschränkungen seien bereits im medizinisch zumutbaren Belastbarkeitsprofil enthalten. Eine gerichtliche Korrektur scheiterte oft an der Kognition (Überprüfungsumfang) der Versicherungsgerichte, da diese nicht ohne Not von der Ermessensausübung der Verwaltung abweichen, und die Kognition des Bundesgerichts war auf Willkürprüfung beschränkt.

Mit der Weiterentwicklung der IV, in Kraft seit 01. Januar 2022, wird der Leidensabzug aufgegeben und durch neue Korrekturfaktoren ersetzt. Neu wird von funktioneller Leistungsfähigkeit (vgl. Art. 54a Abs. 3 IVG; Art. 49 Abs. 1bis IVV) gesprochen und ein Teilzeitabzug gewährt (vgl. Art. 26bis Abs. 3 IVV).

Bei der Festsetzung der funktionellen Leistungsfähigkeit ist die medizinisch attestierte Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit und für angepasste Tätigkeiten unter Berücksichtigung sämtlicher physischen, psychischen und geistigen Ressourcen und Einschränkungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht zu beurteilen und zu begründen. Mit dem neuen Regime sollen nun jegliche durch die Invalidität bedingte quantitative und qualitative Einschränkungen bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (z.B. erhöhter Pausenbedarf, Belastungslimiten, Verlangsamungen, etc.) berücksichtigt sein. Die ärztlich festgestellte funktionelle Leistungsfähigkeit wird künftig wohl eher tiefer ausfallen, als das bisher der Fall war. Eine Beschränkung auf 25%, wie das beim Leidensabzug der Fall war, fällt weg.

Kann die versicherte Person aufgrund ihrer Invalidität nur noch mit einer funktionellen Leistungsfähigkeit von 50 % oder weniger tätig sein, werden vom statistisch bestimmten Wert 10 % für Teilzeitarbeit abgezogen.

Die Abzüge fallen nicht mehr ins Ermessen der IV-Stelle und können nun leichter gerichtlich überprüft werden.

 

Befangener Gutachter einer hörbehinderten Versicherten

Nach Abschluss der Eingliederungsmaßnahmen liess die IV-Stelle unsere Mandantin psychiatrisch gutachterlich abklären. Nach Vorliegen des Gutachtens übten wir daran Kritik, weil der Gutachter unsere Mandantin gar nicht richtig verstanden hatte und mit ihrer schweren Hörbehinderung nicht adäquat umzugehen wusste. Eine korrekte und auf Vertrauen basierende Begutachtung lege artis sei nicht möglich gewesen, weshalb das Gutachten unbrauchbar sei.

Auf unsere Beschwerde gegen die Verfügung, welche die Rentenberechtigung verneint, kommt das Versicherungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2021 (VBE.2020.453 in den AGVE) zum Schluss, dass der Gutachter befangen gewesen sei. Es habe keine entspannte Atmosphäre geherrscht und auf die Schallempfindlichkeit der Versicherten sei nicht Rücksicht genommen worden. Das Gutachten erfülle damit die gesetzlichen Anforderungen nicht. Der Gutachter erwecke den Anschein der Befangenheit. Das Gutachten taugt somit nicht als Grundlage für die Renteneinstellung und die IV-Stelle muss die Angelegenheit erneut prüfen.

Inzwischen erhält unsere Mandantin die Rente.

 

Krankentaggeldversicherer darf nicht nur auf medizinisches Gutachten abstellen

Unser Mandant hatte viele Jahre bei demselben Arbeitgeber eine unqualifizierte Arbeit verrichtet, bevor er dauerhaft erkrankte und arbeitsunfähig wurde. Nachdem der Krankentaggeldversicherer ein paar Monate Taggelder gezahlt hatte, ließ er ein Gutachten erstellen. Dieses kam zum Schluss, der Versicherte sei zwar in seiner angestammten Arbeitstätigkeit nicht mehr, jedoch aus medizinischer Sicht in einer leicht wechselbaren Tätigkeit nach wie vor voll arbeitsfähig. Gestützt darauf kündigte der Krankentaggeldversicherer die Einstellung seiner Leistungen an.

Nachdem die Verhandlungen mit dem Versicherer über eine Fortführung der Krankentaggeldzahlungen ergebnislos verlaufen waren, reichten wir, vorfinanziert von einer Rechtsschutzversicherung, Klage gegen den Krankentaggeldversicherer beim kantonalen Versicherungsgericht ein (vgl. Art. 7 ZPO; § 64 VRPG/AG; § 14 EGZPO/AG; BGE 138 III 2 ff.). Wir brachten im Wesentlichen vor, die Krankentaggeldversicherung versichere eine ganz konkrete Tätigkeitkeit eines bestimmten Arbeitsverhältnisses (vgl. Arbeitsunfähigkeit: Art. 6 ATSG). Im Gegensatz zur Erwerbsunfähigkeit (vgl. Art. 7 ATSG) bzw. Invalidität (vgl. Art. 8 ATSG) seien daher nicht der ausgeglichene Arbeitsmarkt und medizinisch-theoretische Aussagen als Referenz heranzuziehen, sondern es sei konkret aufzuzeigen, ob und wie dem Versicherten bei lander Dauer ein konkreter Berufswechsel mit konkreten Verdienstmöglichkeit im bisherigen Umfang möglich und zumutbar sei. Solange dies der Versicherung nicht gelänge, habe sie die versicherten Leistungen weiterhin zu erbringen.

Der Versicherer verteidigte seine Ablehnung vor allem mit der Schadenminderungspflicht (sog. Rettungspflicht im Versicherungsrecht: Art. 61 VVG). Das Versicherungsgericht folgt dieser Argumentation indes nicht. Es ist der Auffassung, die bloße Bekanntgabe eines medizinisch-theoretischen Zumutbarkeitsprofils genüge nicht; der Versicherer hätte vielmehr auf dem konkreten Arbeitsmarkt real existierende Tätigkeiten benennen und die dortigen Verdienstmöglichkeiten mit dem bisherigen Einkommen des Versicherten vergleichen müssen.

Das Gericht heißt die Klage gut und spricht unserem Mandanten für die eingeklagte Periode die versicherten Taggelder zu. Somit erhält er für die gesamte versicherte Zeitspanne von 720 Tagen die vollen Leistungen.

Glaubhaftmachen neuer Tatsachen bei der IV-Neuanmeldung

Wurde ein IV-Begehren abgelehnt, ist später eine Neuanmeldung analog einer Rentenrevision (vgl. Art. 17 Abs. 1 ATSG) möglich, wenn die versicherte Person glaubhaft machen kann, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse inzwischen in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert haben. In unserem Fall verweigert die IV eine Abklärung, weil nach ihrer Ansicht sich die Verhältnisse nicht maßgeblich verschlechtert haben.

Wir führen für unsere Mandantin Beschwerde beim kantonalen Versicherungsgericht. Dieses heißt die Beschwerde gut und weist die IV an, auf die Neuanmeldung einzutreten und die Ansprüche unserer Mandantin materiell zu prüfen. Wir konnten mit Arztberichten glaubhaft machen, dass sich die psychiatrische Situation verschlechert hat. Außerdem konnten wir aufzeigen, dass die IV wegen der Teilerwerbstätigkeit der Versicherten gestützt auf die Verordnungsänderung vom 01. Januar 2018 die gemischte Methode hätte anwenden müssen. Diese führt in der Regel zu höheren IV-Graden. Es liegt mithin ein Revisionsgrund vor, so dass der rechtserhebliche Sachverhalt umfassend abzuklären ist (vgl. BGE 141 V 9 ff.).