Resterwerbsfähigkeit in der IV wegen Alter nicht verwertbar

Unser Mandat V. hielt sich längere Zeit im Ausland auf. Zurück in der Schweiz meldete er sich aufgrund einer erheblichen, vornehmlich psychischen Erkrankung bei der Invalidenversicherung (IV) zum Bezug von Leistungen an. Die IV lehnte indes Leistungen mit der Begründung ab, V. hätte schon wegen seines vorherigen Auslandaufenthaltes keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Sie stufte ihn daher bei der Statusfrage als Nicht-Erwerbstätigen analog einer Hausfrau ein (vgl. Art. 28a Abs. 2 IVG).

Auf unsere Beschwerde hin hielt das Versicherungsgericht fest, V. hätte als Gesunder selbstverständlich gearbeitet bzw. einen Job gesucht. Die Methode des Einkommensvergleichs sei anwendbar (vgl. Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG).

Nach dem Urteil spricht die IV unserem Mandanten V. eine ganze Rente zu, ohne die Einschränkung genauer abzuklären. V. stehe kurz vor der Pensionierung, so dass er seine wahrscheinliche Restarbeitsfähigkeit in der verbleibenden Restaktivitätsdauer von gut einem Jahr ohnehin nicht mehr verwerten könne. In solchen Konstellationen wird das fortgeschrittene Alter, obschon an sich ein invaliditätsfremder Faktor, als Kriterium anerkannt, welches zusammen mit weiteren persönlichen und beruflichen Gegebenheiten dazu führen kann, dass die einer versicherten Person verbliebene Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt wird. Die Verwertung der Resterwerbsfähigkeit ist folglich nicht mehr zumutbar, so dass im Ergebnis ein Anspruch auf eine ganze IV-Rente besteht (vgl. Bundesgerichtsurteil 8C_133/2018 vom 26.06.2018, E. 2.2.2).

Glaubhaftmachen neuer Tatsachen bei der IV-Neuanmeldung

Wurde ein IV-Begehren abgelehnt, ist später eine Neuanmeldung analog einer Rentenrevision (vgl. Art. 17 Abs. 1 ATSG) möglich, wenn die versicherte Person glaubhaft machen kann, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse inzwischen in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert haben. In unserem Fall verweigert die IV eine Abklärung, weil nach ihrer Ansicht sich die Verhältnisse nicht maßgeblich verschlechtert haben.

Wir führen für unsere Mandantin Beschwerde beim kantonalen Versicherungsgericht. Dieses heißt die Beschwerde gut und weist die IV an, auf die Neuanmeldung einzutreten und die Ansprüche unserer Mandantin materiell zu prüfen. Wir konnten mit Arztberichten glaubhaft machen, dass sich die psychiatrische Situation verschlechert hat. Außerdem konnten wir aufzeigen, dass die IV wegen der Teilerwerbstätigkeit der Versicherten gestützt auf die Verordnungsänderung vom 01. Januar 2018 die gemischte Methode hätte anwenden müssen. Diese führt in der Regel zu höheren IV-Graden. Es liegt mithin ein Revisionsgrund vor, so dass der rechtserhebliche Sachverhalt umfassend abzuklären ist (vgl. BGE 141 V 9 ff.).

Sexuelle Nötigung, obwohl sich Frau nicht als „Opfer“ sieht

Gerechtigkeit und Recht sind zwei verschiedene paar Schuhe. Das musste ein Mandant von uns erfahren: Obwohl die durch seine Avancen belästigte Frau im Vorverfahren ausdrücklich Desinteresse an einer Verurteilung wegen sexueller Nötigung erklärt hatte und dies während der Hauptverhandlung wiederholte, wurde der Beschuldigte wegen sexueller Nötigung verurteilt (vgl. Art. 189 Abs. 1 StGB).

Für die Frau war es wichtig, dass der Mandant wegen der vor und nach der sexuellen Handlung begangenen Körperverletzung bestraft wird. Das Gericht demgegenüber wies darauf hin, dass nicht zuletzt aufgrund der detaillierten Schilderungen der Frau ein sexueller Bezug vorliege und der Beschuldigte nötigend eine sexuelle Handlung von ihr verlangt habe.

Entscheidend ist bei Sexualdelikten nicht die subjektive Wahrnehmung, sondern eine objektivierte Betrachtung: Fasst ein außenstehender Betrachter eine konkrete Handlung als sexuell motiviert auf? Gibt es einen eindeutig sexuellen Bezug?

Schikanestopp ist kein Raserdelikt

Im Fall mit der Video-Überwachung auf der A1 und A3 (vgl. Aktueller Fall vom 22. Dezember 2019) ist materiell die strafrechtliche Würdigung des Schikanestopps von Interesse. Das Gericht folgt unserem Eventualbegehren und würdigt den Schikanestopp „nur“ als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG (nebst einer Nötigung in echter Konkurrenz). Es verwirft das Ansinnen der Staatsanwaltschaft, den konkreten Schikanestopp unseres Mandanten dem sog. „Rasertatbestand“ der qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung von Art. 90 Abs. 3 SVG zu unterstellen.

Die Staatsanwaltschaft setzte sich mit ihrem Antrag zum einen in Widerspruch zu den Empfehlungen ihrer eigenen Oberstaatsanwaltschaft, die Schikanestopps als grobe Verkehrsregelverletzungen betrachten (vgl. Strafbefehlsempfehlungen OStA AG 2019, Ziff. 5.5). Zum anderen widerspräche die Subsumierung unter eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die bislang Schikanestopps als grobe Verkehrsregelverletzung betrachtete (vgl. BGE 137 IV 326, 332 E. 3.6).

In konkreten Fall sieht man auf der – wenn auch illegalen – Video-Überwachung, wie unser Mandant und sein Kumpel auf der wenig befahrenen A3 im Schinznacher Feld nach mehreren vorangegangenen Provokationen durch einen deutschen Audi fast gleichzeitig bis zum Stillstand bremsen, aussteigen und den Audi anhalten wollen. Dieser kann nach kurzem Stillstand über die Notspur weiterfahren. Die ersten unbeteiligten nachfolgenden Fahrzeuge erscheinen erst ca. 10 Sekunden später. Es gelingt uns, u.a. mit dem gerichtlichen Gutachten aufzuzeigen, dass der erste nachfolgende Personenwagen auf der übersichtlichen Strecke fast den dreifachen Anhalteweg zur Verfügung hatte. Damit ist die vom Bundesgericht für den „Rasertatbestand“ vorausgesetzte besonders naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung nicht gegeben. Das „hohe Risko eines Unfalles mit Schwerverletzten oder Todesopfern“ , wie es Art. 90 Abs. 3 SVG verlangt, war objektiv und subjektiv nicht gegeben, schon gar nicht war der Erfolgseintritt vergleichsweise nahe (vgl. Bundesgerichtsurteil 6B_698/2017 vom 13. Oktober 2017, E. 5.2).

Auch den Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine sog. fakultative Landesverweisung lehnt das Gericht ab. Jeder Ausländer kann bei einer Verurteilung wegen eines Vergehens oder Verbrechens ausgewiesen werden. Eine Landesverweisung ist also nicht nur bei den sog. Katalogtaten von Art. 66a StGB obligatorisch, sondern kann vom Gericht fast immer angeordnet werden (vgl. Art. 66a bis StGB). Bei dem gut integrierten, erwerbstätigen verheirateten EU-Ausländer gewichtet das Gericht indes das persönliche Interesse am Verbleiben in der Schweiz höher als das öffentliche Interesse an einer Fernhaltemaßnahme.