Corona: Ohne gesetzliche Grundlage keine Skype-Gerichtsverhandlung

Die Administrativhaft im Ausländerrecht muss zu Beginn und später bei der Verlängerung auf Antrag des Betroffenen durch das Gericht im Rahmen einer „mündlichen Verhandlung“ geprüft werden (vgl. Art. 80 Abs. 2 AIG; Art. 78 Abs. 4 AIG). In unserem Fall befindet sich der Häftling schon ein halbes Jahr in sog. Durchsetzungshaft, mit der seine angeblich unzureichende Mitwirkung bei der Papierbeschaffung erzwungen werden soll.

Nachdem das zuständige Amt für Migration und Integration eine weitere Verlängerung der Durchsetzungshaft verfügt hat, ordnet das Gericht ohne Begründung und ohne Antrag einer Verfahrenspartei die Überprüfung via Videokonferenz an. Der Betroffene ist damit nicht einverstanden. Wir sehen für diese Vorgehensweise keine gesetzliche Grundlage und mehrere verfassungsmäßige Rechte und Prinzipien verletzt. Daher beantragen wir zu Beginn der Skype-Schalte die Absetzung und die Durchführung einer Präsenzverhandlung gemäß den gesetzlichen Vorgaben innerhalb der vorgegebenen Frist, was das Verwaltungsgericht ablehnt.

In der Folge müssen wir die Rüge in einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht gegen den Endentscheid vorbringen, der die Verlängerung der ausländerrechtlichen Durchsetzungshaft bestätigt.

Das Bundesgericht heißt mit Urteil vom 19. November 2021 (2C_846/2021) die Beschwerde gut und ordnet die Durchführung einer Präsenzverhandlung innerhalb von 96 Stunden an. Beim AIG sei gestützt auf die historische und teleologische Auslegung davon auszugehen, dass es sich bei der mündlichen Verhandlung um eine Präsenzverhandlung handle. Verzichte der Betroffene nicht auf diese vom Gesetz vorgesehene Verhandlung, dürfe nicht einfach auf Skype ausgewichen werden. Auch wenn das Bundesgericht nicht unmittelbar Stellung zur Frage bezieht, ob die Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht auf das Verwaltungsverfahren anwendbar ist, kann aus den Erwägungen geschlossen werden, dass es Aufgabe des (kantonalen) Gesetzgebers wäre, die Verfahrensordnung entsprechend anzupassen. Das Verwaltungsgericht hielt über die Verweisnorm in § 24 Abs. 4 VRPG/AG betreffend subsidiäre Anwendbarkeit der zivilprozessualen Beweisbestimmungen die bundesrätliche Notverordnung für anwendbar, obwohl aus unserer Sicht die Frage nach einer Präsenzverhandlung nichts mit Beweismitteln zu tun hat (vgl. dazu Art. 54 ZPO, auf den die Covid-19-Verordnung Bezug nimmt, der sich jedoch nicht im 10. Titel der ZPO zu „Beweis“ befindet; vgl. auch BGE 146 III 194 ff. [Handelsgericht ZH]).

Ausschaffung wegen Corona undurchführbar

Das Bundesgericht entscheidet grundsätzlich in Dreierbesetzung, wenn nicht schon vorher ein Einzelrichter wegen offensichtlicher Unzulänglichkeiten auf die Beschwerde gar nicht erst eintritt (vgl. Art. 20 und Art. 108 f. BGG). Über eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, die wir gegen eine Verlängerung der Ausschaffungshaft eingereicht hatten, entschied der Supreme Court indes am 25. Mai 2020 in Fünferbesetzung.

Wir hatten dem Bundesgericht die Frage unterbreitet, ob es zulässig sei, die in Art. 80 Abs. 2 AIG vorgeschriebene mündliche Haftprüfungsverhandlung via Skype, also ohne physische Präsenz der Parteien, durchzuführen. In der Beschwerde beantragten wir die Kassierung eines entsprechenden Urteils des Verwaltungsgerichts und die unverzügliche Freilassung unseres Klienten, nachdem das Gericht wegen der Corona-Pandemie ohne Antrag einer Partei von sich aus eine Haftüberprüfung via Skype angeordnet hatte, bei der alle Parteien und Beteiligten nur digital zugeschaltet wurden. Im Rahmen des rechtlichen Gehörs hatte unser Klient, der soeben Vater geworden war und dem in der allgemeinen Corona-Hysterie jegliche Besuche im Ausschaffungsgefängnis verboten worden waren, zuvor ausdrücklich eine richtige Gerichtsverhandlung verlangt.

In der Entscheidung 2C_312/2020 vom 25. Mai 2020 prüft das Gericht leider die formellen Einwände (vgl. Beschwerde, Rz. 14 ff.) gegen die Haftprüfung via Skype nicht. Dennoch heißt es die Beschwerde in der Sache gut. Aufgrund der Corona-Pandemie sei derzeit entgegen der Vorinstanz eine Durchführung der Ausschaffung nicht absehbar. Die Vorinstanz habe zu Unrecht auf die maximal zulässige Haftdauer von 18 Monaten abgestellt, anstatt den Einzelfall genauer zu prüfen. Entscheidend sei, ob der Wegweisungsvollzug mit hinreichender Wahrscheinlichkeit innert absehbarer Zeit möglich erscheint oder nicht. Die Haft verstößt gegen Art. 80 Abs. 6 Bst. a AIG und ist zugleich unverhältnismäßig, wenn triftige Gründe dafür sprechen, dass die Wegweisung innert vernünftiger Frist nicht vollzogen werden kann. Auch der Hinweis des Staatssekretariats für Migration, wonach Sonderflüge nicht ausgeschlossen seien, sei zu vage im Hinblick auf die praxisgemäß verlangte Durchführbarkeit innert absehbarer Zeit.

Weil die verlängerte Ausschaffungshaft nicht mehr gerechtfertigt ist, verletzt sie gleichzeitig die Habeas Corpus-Rechte gemäß Art. 5 Ziff. 1 Bst. f EMRK. Das Bundesgericht ordnet daher konsequenterweise die unverzügliche Freilassung unseres Mandanten an.