Raser verlieren ihr Auto nicht in jedem Fall

Auf Schweizer Landstraßen gilt eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h. Wer 60 km/h zu schnell fährt, also 140 km/h oder noch schneller unterwegs ist, gilt als „Raser“. Er begeht gemäß Gesetz „in jedem Fall“ eine „besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit“ und wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis vier Jahre bestraft (Art. 90 Abs. 3 und Abs. 4 SVG). Das Bundesgericht anerkennt immerhin nach anfänglichem Zögern, dass „in jedem Fall“ nicht ungeachtet eines ausnahmsweise fehlenden Vorsatzes die harte Bestrafung nach sich ziehen darf (BGE 142 IV 137 ff.).

Unser Mandant wird abzüglich der Toleranz außerorts mit genau 140 km/h geblitzt. Das Fahrzeug ist zwar auf seinen Namen zugelassen, doch es wird zur Hauptsache von der Ehefrau als Familienauto genutzt, weil der Mandant normalerweise mit seinem Geschäftsauto herumfährt. Dennoch beschlagnahmt die Staatsanwaltschaft vorliegend das Fahrzeug als Tatwerkzeug standardmäßig zur Sicherstellung seiner möglichen späteren Einziehung durch das Gericht (Art. 90a SVG; Art. 263 StPO).

Der Mandant ist geständig. Wir können durch Einwilligung ins abgekürzte Verfahren bei der Staatsanwältin erreichen, dass das Fahrzeug nach wenigen Wochen freigegeben und der Ehefrau des Mandanten ausgehändigt wird. Außerdem erhält unser Mandant die minimale Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine happige Buße dazu (Art. 42 Abs. 4 StGB). Das Gericht akzeptiert schließlich den „Deal“ (Art. 362 StPO).

(Foto: Autos im Hochland bei Emstrur, Island, Stefan Meichssner, August 2017)

 

Nachbar ohne Abstand und Anstand

Nachbarschaftliche Beziehungen sind bekanntlich nicht immer einfach. Allzu oft entwickeln sich regelrechte Kleinkriege zwischen Nachbarn. In unserem Fall verlangte der Nachbar von unserer Mandantschaft die Entfernung der Thuja-Hecke, welche angeblich sein Eigentum verletzte. Vor der schriftlichen Aufforderung durch die Anwältin war der Nachbar mehrfach ausfällig geworden. Unsere Abklärungen zeigten, dass die Hecke tatsächlich auf, ja zum größten Teil sogar jenseits der Grenze stand. Unsere Mandanten hatten die Hecke aufgrund einer mündlichen Abmachung mit dem Rechtsvorgänger des heutigen Nachbarn so gepflanzt und auch stets alleine gepflegt. An diese Abmachung wollte sich der neue Nachbar jedoch nicht halten.

Wir zeigen der Mandantschaft die maßgeblichen Bestimmungen auf: Für Pflanzen gelten die privatrechtlichen Bestimmungen des aargauischen Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch in §§ 88 ff. EG ZGB. Die Abstandsvorschriften sind kompliziert und hängen von der Art der Pflanze ab (Obstbaum, Zierbaum, Zwergbaum, Strauch etc.). So dürfen Sträucher mit einer Höhe bis 3 m bis 1 m an die Grundstücksgrenze gepflanzt werden und selbstredend die Grenze nicht überwachsen. Gehölze bis 1,80 m Höhe dürfen bis 0,60 m an die Grenze gesetzt werden, was grundsätzlich für Thuja-Hecken gilt.

Die Mandantschaft kann sich für die Zukunft, gleichsam als Ersatz für die entfernte Thuja-Hecke, eine Einfriedung mit einer Holzpalisade oder dergleichen vorstellen. Für diesen Fall sind die verwaltungsrechtlichen Bauvorschriften zu Rate zu ziehen. Die Einfriedung darf höchstens 1,80 m hoch werden, wenn sie direkt an die Grenze gesetzt wird. Soll sie höher werden, ist sie um das Mehrmaß von der Grenze zurückzuversetzen (§ 28 BauV).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass für Einfriedungen ab einer Höhe von 1,20 m eine Baubewilligung eingeholt werden muss (§ 49 Abs. 2 Bst. a BauV). Sie sind also zulässig, aber genehmigungspflichtig. Dies unterscheidet sie von der üblichen Gartengestaltung, die in der Bauzone grundsätzlich baubewilligungsfrei erfolgen darf.

(Foto: Time Square New York City, Stefan Meichssner, Oktober 2017)

Baubewilligung zwei Jahre gültig

Eine Baubewilligung ist eine Polizeierlaubnis, die auf Gesuch hin die aus polizeilichen Gründen (Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Gesundheit, Sittlichkeit etc.) bewilligungspflichtige Tätigkeit Bauen von Immobilien zulässt, weil die zum Schutz der Polizeigüter aufgestellten gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Baubewilligungspflicht ergibt sich schon aus dem Bundesrecht und ist im Wesentlichen in einem kantonalen Verfahren geregelt (vgl. Art. 22 RPG und §§ 59 BauG/AG).

In unserem Fall erhielt die Bauherrschaft vor rund vier Jahren eine Baubewilligung für den Rückbau eines bestehenden Hauses und einen entsprechenden Neubau. Die Baubewilligung enthielt ausdrücklich die gesetzliche Bestimmung von § 65 Abs. 1 BauG/AG, wonach sie während zweier Jahre ab Rechtskraft gültig ist.

Ergreift die Bauherrschaft während der Gültigkeitsdauer keinerlei bauliche Maßnahmen, verwirkt die Baubewilligung. Die Verwirkung tritt unabhängig von der Passivität der Bauherrschaft ein. Als baubeginnende Arbeiten gelten solche, aus denen der ernsthafte Wille hervorgeht, die Baute ohne Verzögerung zu Ende zu führen; in der Regel sind größere Aushubarbeiten erforderlich. Hingegen werden das Aufräumen des Baugrundstücks oder das Aufstellen von Baubaracken als bloße Vorbereitungshandlungen betrachtet, welche die Verwirkungsfrist der erteilten Baubewilligung nicht unterbrechen.

Vorliegend hat die Bauherrschaft bislang keinerlei bauliche Maßnahmen ergriffen; deshalb ist die Baubewilligung verwirkt. Der Bauherrschaft bleibt folglich nichts anderes übrig, als ein neues Baugesuch einzureichen, welches die heute geltenden Bauvorschriften beachten muss. Aus dem Umstand, dass die alte Baubewilligung noch eine bessere Ausnützung zugelassen hat, kann die Bauherrschaft nichts für das neue Baugesuch ableiten. Es liegt weder ein Anwendungsfall des Vertrauensschutzes noch ein übergangsrechtlicher Tatbestand vor.

Die Frage der Bauherrschaft, ob sie mit einem neuen, vergleichbaren Baugesuch Anspruch auf das vereinfachte Verfahren habe, müssen wir klar mit Nein beantworten. Das vereinfachte Verfahren nach § 61 BauG/AG ist nur für kleine Bauprojekte vorgesehen, die weder die Nachbarn tangieren noch öffentliche Interessen beeinträchtigen.

(Bild: Landmannalaugar, Island, Stefan Meichsser, August 2017)

 

Abkürzung im Strafverfahren

Die Strafprozessordnung stellt, in Anlehnung an das US-amerikanische „plea bargaining“, seit 2011 das abgekürzte Verfahren zur Verfügung (Art. 358 ff. StPO). Nach der Konzeption des Gesetzgebers kann der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger das abgekürzte Verfahren vorschlagen, wobei in der Praxis regelmäßig die Staatsanwaltschaft informell den Anstoß gibt (die Bundesanwaltschaft hingegen „erwartet“ den Vorschlag von der Verteidigung). Für die Verteidigung ist es einigermaßen schwierig, taktisch den richtigen Zeitpunkt für das offizielle Gesuch eines abgekürzten Verfahrens zu finden. Voraussetzung ist, dass der Beschuldigte die Tat gesteht und die Zivilansprüche im Grundsatz anerkennt sowie die Staatsanwaltschaft keine Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verlangt. Gewisse Staatsanwaltschaften verweigern das abgekürzte Verfahren für einzelne Deliktsarten (z.B. Richtlinie Nr. 2.4 der Generalstaatsanwaltschaft Freiburg für Sexualdelikte).

Kommt es zu einem abgekürzten Verfahren, entwirft die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift, welche der Beschuldigte und die anderen Parteien innerhalb von zehn Tagen annehmen können. Ist dies geschehen, geht der Fall vor das erstinstanzliche Gericht, welches eine „Mini-Verhandlung“ ohne Beweisverfahren durchführt. Stimmt das Gericht zu, erhebt es die Anklageschrift zum Urteil. Andernfalls weist das Gericht die Akten an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung des ordentlichen Vorverfahrens zurück. Umstritten ist, inwieweit anlässlich der Hauptverhandlung noch Anpassungen an der Anklageschrift möglich sind. Im abgekürzten Verfahren muss der Beschuldigte zwingend durch einen Anwalt oder eine Anwältin verteidigt werden (sog. notwendige Verteidigung, Art. 130 Bst. e StPO).

In unserem Fall im Kanton Bern konnten sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft rasch auf ein abgekürztes Verfahren einigen. Der junge Schweizer Beschuldigte war geständig, die Sanktionen für die Beschaffungskriminalität (mehrfacher Hausfriedensbruch und Diebstahl) im Zusammenhang mit Betäubungsmitteldelikten relativ leicht zu bestimmen, die substantiierten Zivilforderungen der geschädigten Privatpersonen und Geschäfte anerkannt und der Beschuldigte im vorzeitigen Strafvollzug und mit einer in Aussicht gestellten Lehrstelle auf dem Weg in ein geregeltes Leben.

(Bild: Alftavatn, Laugavegur, Island, Stefan Meichssner, August 2017)

Widerstand in der Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer

S. ist Eigentümer einer Wohnung und damit Mitglied einer Stockwerkeigentümergemeinschaft. Gegen seinen Willen beschließt die Mehrheit der Versammlung, ein Projekt einzelner Mitglieder weiterzuverfolgen, mit dem eine Begegnungszone geschaffen werden soll. Die bereits bestehende Anlage mit Bänken und Spielplatz genüge aus Sicht der aktiven Mitglieder nicht. S. gelangt vorbeugend an uns und bittet uns, seine Abwehrmöglichkeiten aufzuzeigen.

Die rechtlichen Möglichkeiten hängen stark von der Würdigung der Begegnungszone als nützliche oder luxuriöse bauliche Maßnahme ab. Ist sie nützlich, kann sie mit dem qualifizierten Mehr aller Eigentümer und der Mehrheit der Quoten beschlossen werden. Ist sie luxuriös, bedarf es eines einstimmigen Beschlusses aller Eigentümer (Art. 647d und Art. 647e ZGB). Das Reglement der Stockwerkeigentümergemeinschaft von S. enthält identische Bestimmungen wie das Gesetz. Weil vorliegend bereits eine hinreichende Außenraumgestaltung vorliegt, die Investitionen in einem Missverhältnis zu der zu erwartenden Wertsteigerung steht sowie die neue Anlage vor allem die Ansehnlichkeit steigert, stufen wir die Begegnungszone als luxuriöse Maßnahme ein, die S. grundsätzlich mit seinem „Veto“ verhindern kann.

Wir sehen jedoch bei genauer Prüfung eine andere Möglichkeit, das Projekt zu verhindern. Die Überbauung erfolgte seinerzeit im Rahmen eines Gestaltungsplanes (vgl. §§ 21 ff. BauG/AG). Dieser verbietet ausdrücklich die Errichtung (weiterer) privater Außenraumgestaltungen.

Bild: Kafdaklofskvisl, Island, by Stefan Meichssner, August 2017

Stellplatzkosten für beschlagnahmte Fahrzeuge

Lenker L. ist seinen Führerschein los, will aber trotzdem eine kurze Runde rund um den Block mit seinem auffälligen getunten Fiat machen. Zufällig kommt ein Streifenwagen der Polizei entgegen. L. gerät in Panik, als er im Rückspiegel den Streifenwagen wenden sieht, gibt Gas, schneidet eine Kurve, streift mit dem Seitenspiegel ein auf der Straße spielendes Kind und fährt nach Hause.

Die Strafbehörden fahren grobes Geschütz auf. Sie beschlagnahmen beide Fahrzeuge des L., obwohl nur eines als Tatwaffe in Frage kommt. Anschließend klagen sie L. u.a. wegen qualifiziert grober Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 3 SVG, Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB, pflichtwidrigen Verhaltens bei einem Unfall nach Art. 92 Abs. 2 SVG etc. an, verlangen eine Freiheitsstrafe von 12 Monaten sowie die Einziehung beider beschlagnahmter Fahrzeuge. Die erste Instanz spricht L. von den happigsten Vorwürfen frei und erkennt auf grobe Verkehrsregelverletzung. Außerdem verweigert sie die Entziehung der beschlagnahmten Fahrzeuge, die somit L. zurückgegeben werden können. Die zweite Instanz verschärft den Schuldspruch auf Gefährdung des Lebens, verweigert aber ebenfalls entgegen der Berufung der Staatsanwaltschaft die Einziehung der Fahrzeuge. Die Kosten für die Beschlagnahme bis zum zweitinstanzlichen Urteil muss L. aber trotzdem bezahlen.

Wir gelangen für L. mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht. Dort rügen wir insbesondere, es gehe nicht an, L. sämtliche Kosten für die Beschlagnahme aufzuerlegen, nachdem die Voraussetzungen für die Einziehung nicht vorlägen. Das Bundesgericht heißt die Beschwerde mit Urteil vom 24. Mai 2017 (6B_1255/2016) teilweise gut. Es erinnert daran, dass im Berufungsverfahren gemäß Art. 428 Abs. 1 StPO die Kosten nach dem Unterliegensprinzip zu verlegen sind. Weil die Staatsanwaltschaft betreffend Einziehung unterliegt, dürfen L. somit die nach dem erstinstanzlichen Urteil entstandenen Standplatzkosten nicht auferlegt werden. Die ab Beschlagnahme bis zum erstinstanzlichen Urteil angefallenen Standplatzkosten hätten L. nur dann erlassen werden können, wenn die Maßnahme offensichtlich fehlerhaft gewesen wäre, was das Bundesgericht verneint.

(Foto: Stefan Meichssner, Blüemlisalphütte)

 

Wenn die Justiz vor die Hunde geht – oder umgekehrt

Frau Streit ist im Quartier bekannt. Allzu gerne provoziert sie mit ihrem Hund Wauwau ihre Nachbarn. Besonders auf dem Kieker hat sie aus unerfindlichen Gründen Frau Frieden. Eines schönen Tages kommt es zu einer folgenschweren Begegnung der beiden Damen und ihrer Vierbeiner. Mops Wauwau stürzt sich auf den Cairn Terrier von Frau Frieden. Frau Streit denkt nicht daran, Wauwau abzurufen, weil dieser nur spielen möchte. Und sowieso wolle sie hier und jetzt auf diesem öffentlichen Weg verharren und zuschauen. Frau Frieden muss ihren verängstigten Cairn Terrier schützen und fordert das Duo Streit-Wauwau mehrmals auf, den Ort zu verlassen. Als dies nichts nützt, bespritzt sie zwecks Abwehr Wauwau mit ein paar Tropfen Wasser. Möglicherweise kriegt Frau Streit dabei aus Unachtsamkeit auch ein paar Tropfen ab. Dies löst bei Frau Streit offenbar einen Schockzustand aus. Als später Anwohnerin Frau Tauber hinzukommt, äußert Frau Frieden angeblich, Frau Streit habe ihren Hund getreten und sei deshalb eine Tierquälerin. Frau Streit behauptet außerdem, Frau Frieden hätte ihr Kratzer am Hals zugefügt.

Drei Tage später erstattet Frau Streit Anzeige gegen Frau Frieden wegen Tätlichkeiten (Art. 126 StGB) und Verleumdung (Art. 174 StGB). Als die Staatsanwaltschaft mehr als ein Jahr später einen Strafbefehl erlässt, begreift Frau Frieden, welche den Vorfall längst vergessen hat,  die Welt nicht mehr. Sie müsste eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen auf Bewährung und eine Buße von 500 Franken bezahlen. Mit dem Strafbefehl kommt Frau Frieden zu uns. Wir erheben Einsprache gegen den Strafbefehl, worauf die Staatsanwaltschaft den Fall mittels Überweisung beim Gericht anklagt (Art. 356 StPO).

Es findet eine denkwürdige Hauptverhandlung vor erster Instanz statt, die das halbe Quartier auf den Zuschauerrängen mitverfolgt. Frau Streit vertritt ihre Strafklage selbst und verzichtet sinngemäß auf eine Zivilklage (Schadensersatz). Eine anschließende, mündliche Urteilsverkündung ist nicht möglich, weil das Gericht noch weitere Beweise erheben will.

Drei Monate später stellt das Gericht das Verfahren betreffend Tätlichkeiten ein und spricht Frau Frieden vom Vorwurf der Verleumdung frei. Weil das Urteil nicht mündlich eröffnet wird, ist die Begründung nicht in allen Teilen klar. Klar und denn auch ausdrücklich im Urteil festgehalten ist, dass die Einstellung betreffend Tätlichkeiten wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung erfolgt. Tätlichkeiten sind bloß Übertretungen, deren strafrechtliche Verfolgbarkeit nach drei Jahren aufhört (Art. 109 StGB). Die Justiz schafft es vorliegend also nicht oder will es nicht, einen banalen Vorfall innerhalb angemessener Zeit abzuhandeln.

Was die Verleumdung angeht, sieht das Gericht wahrscheinlich wie die Verteidigung keine Beweise. Frau Tauber als einzige Drittperson, die unmittelbar nach dem angeblichen Vorfall am Tatort erscheint, hat gemäß Vernehmungsprotokoll nichts gesehen und gehört. Die Kratzer an Frau Streits Hals, über die zwar eine Bestätigung des Hausarztes, aber keine Fotos, vorliegen, könnten auch von der Gartenarbeit stammen. Vor allem aber kann Frau Frieden mit Dokumenten und anlässlich der Hauptverhandlung beweisen, dass sie über pathologisch kurze Fingernägel verfügt und folglich kaum in der Lage ist, sich wehrenden Drittpersonen deutlich sichtbare Kratzer zuzufügen.

Die Verfahrenskosten für dieses Verfahren trägt der Staat. Auch die Kosten für die Verteidigung von Frau Frieden gemäß staatlichem Anwaltstarif gehen übrigens zu Lasten der Staatskasse und nicht der Strafklägerin Frau Streit (Art. 416 ff. StPO).

(Bild: Stefan Meichssner, Seebad Bansin, Usedom)

Scheidung zwingt zu Mehrarbeit

Hartnäckig hält sich das Gerücht, eine geschiedene Frau müsse nach 45 nicht mehr arbeiten gehen. Bei der Scheidung müsse daher der Mann für ihren Unterhalt weiterhin aufkommen. Abgesehen davon, dass für geschlechtsspezifische Differenzierungen von vornherein kein Raum besteht, muss nach der Scheidung nach dem Grundsatz der Eigenversorgung ein jeder Ehegatte für seinen gebührenden Unterhalt selbst aufkommen, soweit dies möglich und zumutbar ist (Art. 125 ZGB). Nachehelicher Unterhalt stellt somit nach der Intention des Gesetzgebers die Ausnahme dar.

In unserem Fall findet die Scheidung erst im fortgeschrittenen Alter der Ehegatten statt, nachdem die Kinder ausgeflogen sind und sich beim Ehemann bereits die frühzeitige Pensionierung abzeichnet. Die erste Instanz holt zur Arbeitsfähigkeit der Ehefrau, welche beträchtlichen Unterhalt für sich verlangt, beim Amtsarzt einen Kurzbericht ein. Dieser attestiert der Ehefrau, dass sie ihren gelernten Beruf als Coiffeuse wegen Gelenkschmerzen und fehlender adäquater Behandlung nur noch zu 50% ausüben könne; doch in einer angepassten Tätigkeit sei die Ehefrau zu 100% arbeitsfähig. Sie habe sich auch nie bei der Invalidenversicherung angemeldet, ja nicht einmal Gedanken über diese Option gemacht. Dennoch rechnet die erste Instanz der Ehefrau lediglich das tiefe hypothetische Einkommen basierend auf einer 50%-Arbeitsfähigkeit an, welches im früheren Eheschutzverfahren vom Obergericht als Basis genommen worden war. Dementsprechend verpflichtet die erste Instanz den Ehemann zu relativ hohen monatlichen Unterhaltsbeträgen an die Ehefrau.

Auf unsere Berufung hin (Art. 308 ff. ZPO) reduziert das Obergericht des Kantons Aargau als zweite Instanz die Unterhaltsbeiträge beträchtlich. Auch beschränkt es die Unterhaltsbeträge zeitlich bis zur Pensionierung des Ehemannes. Gegen das Obergerichtsurteil reicht nun wiederum die Ehefrau Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht ein (Art. 72 ff. BGG).

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab und stützt mit seiner Entscheidung vom 27. Januar 2017 (5A_319/2016) das obergerichtliche Urteil. Interessant ist die Erwägung, wonach sich die erwähnte Alterslimite von 45 Jahren „seit je“ nur auf den Fall bezog, wo der andere Ehegatte während der Ehe überhaupt nicht erwerbstätig war; Teilerwerbstätigkeit hingegen sei regelmäßig nach der Scheidung auszudehnen (Erwägung 4.2). Vorliegend wird der Ehefrau u.a. zum Verhängnis, dass sie den Kurzbericht zu spät kritisiert und es versäumt hat, ein Obergutachten zu verlangen. Unter diesen Umständen gehe ihre inhaltliche Kritik an dem Arztbericht ins Leere (Erwägung 3.1). Das Bundesgericht stützt die Annahmen des Obergerichts, welches das hypothetische Einkommen für die in Frage kommenden Tätigkeiten der Ehefrau konkret auf CHF 3.500,– festsetzt (Erwägung 3.4).  Schließlich verweist das Bundesgericht auf seine konstante Praxis, nach der die Unterhaltspflicht grundsätzlich mit Erreichen des AHV-Alters des Unterhaltsschuldners erlösche, weil sich die finanziellen Mittel mit der Pensionierung reduzieren und der Lebensstandard nicht gehalten werden könne (Erwägung 5).

(Bild: Stefan Meichssner, Seebrücke von Ahlbeck, Usedom)

 

Tötungsversuch mit Handgranate – Mord?

Der Knall ist weitherum zu hören. Morgens in der Früh explodiert neben einer Frau auf einer Straße eine Handgranate, wie sich später herausstellt. Die Frau nimmt zunächst nur einen Blitz und einen Knall wahr. Erst am Abend bemerkt sie eine Verletzung am Finger und einen Splitter im Unterleib. Ebenfalls erst am Abend stellen Anwohner in ihren Wohnungen in mehreren Fenstern kleine Löcher fest. Dringend tatverdächtig ist der Ehemann der Frau, der von ihr getrennt lebt und drei Tage später bei der Einreise in die Schweiz festgenommen wird. Der Ehemann bestreitet eine Beteiligung. Die Oberstaatsanwaltschaft beruft uns zur amtlichen notwendigen Verteidigung.

Weil das Sprengstoffdelikt nach Art. 23 Abs. 1 Bst. d StPO der Bundesgerichtsbarkeit untersteht, zieht die Bundesanwaltschaft den ganzen Fall an sich (Art. 26 Abs. 2 StPO) und übernimmt uns als Pflichtverteidigung. Die Bundesanwaltschaft lässt die Tat rekonstruieren und ein pyrotechnisches Gutachten erstellen. Alsdann erhebt sie Anklage beim Bundesstrafgericht in Bellinzona. Sie verlangt die Verurteilung des Ehemannes wegen Mordversuchs, Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in verbrecherischer Absicht sowie Sachbeschädigung und beantragt eine Freiheitsstrafe von elf Jahren. Der Ehemann verneint eine Beteiligung bis zuletzt und verlangt einen Freispruch. Er sei zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen, es gebe keine Daten des Mobiltelefons, der Sicherungsbügel der Handgranate M75 sei erst mehr als 24 Stunden nach der Tat an einer viel befahrenen Straße gefunden worden und die daran festgestellte DNA von ihm beweise die Tat nicht.

Das Bundesstrafgericht verurteilt mit Urteil vom 18. März 2015 den Ehemann „nur“ wegen des Versuchs der vorsätzlichen Tötung (Art. 111 StGB) und der Sachbeschädigung (Art. 144 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Es hält fest, dass allein der Umstand, dass der Tötungsversuch mit einer Handgranate begangen worden sei, nicht auf die für Mord (Art. 112 StGB) verlangte besondere Skrupellosigkeit schließen lasse. Für den Ehemann sei es schlicht praktischer gewesen, in seiner bosnischen Heimat eine Handgranate für 10 Euro zu kaufen als eine Schusswaffe. Schließlich lasse auch das mögliche Motiv, in einer zerrütteten Ehe keinen Unterhalt mehr an seine Ehefrau zu bezahlen, den Ehemann nicht als besonders gefühlskalten, primitiven Täter erscheinen.

Da die Anklage keine konkrete Gefährdung weiterer Personen durch die Explosion der Handgranate behauptet, entfalle, so die Bundesstrafrichter, eine zusätzliche Verurteilung des Ehemannes wegen des Sprengstoffdelikts (Art. 224 StGB). Das Tötungsdelikt konsumiere das Sprengstoffdelikt.

(Bild: Stefan Meichssner, Am Strand von Baabe, Rügen)

Vier-Augen-Delikt mit sieben Händen?

Vier-Augen-Delikte sind Taten, für die es neben den Aussagen der beiden Beteiligten keine weiteren Beweise gibt. Bei Sexualdelikten sind regelmäßig nur Täter und Opfer vorhanden, welche das Vorgefallene naturgemäß völlig unterschiedlich sehen und sich widersprechende Aussagen machen („Na klar hatten wir Sex, sie wollte es ja auch!“). In solchen Konstellationen kommt der Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers und der Glaubhaftigkeit seiner Aussagen hervorragende Bedeutung zu. Häufig muss die Glaubhaftigkeit mit einem aussagepsychologischen Gutachten abgeklärt werden (vgl. Bundesgerichtsurteil 6B_1251/2014 vom 1. Juni 2015). In unserem Fall kann das Gericht jedoch schnell selbst erkennen, dass die Story des „Opfers“ erstunken und erlogen ist.

Die 16-jährige Tochter wirft dem Vater vor, er hätte sie vor zwei Jahren sexuell missbraucht und mehrfach vergewaltigt. Schon der Zeitpunkt, in dem die „Story“ auftaucht, macht stutzig: auf dem Höhepunkt eines wüsten Eheschutzverfahrens der Eltern, die sich getrennt haben. Die Tochter hat massive psychische und schulische Probleme und ist unterdurchschnittlich intelligent. Sie ist auf Rache aus, nachdem der Vater angeblich eine Beziehung von ihr zu einem Jungen beendet hat. Dieser bestätigt später, dass die Tochter und deren Mutter angekündigt haben, den Vater fertigzumachen, damit er „in den Knast wandert“.

Bereits in den polizeilichen Befragungen verstrickt sich die Tochter in unauflösbare Widersprüche. Die angeblichen Übergriffe sollen frühmorgens in ihrem Zimmer stattgefunden haben. Sie will zunächst gehört haben, wie sich ihr Vater in ihr Zimmer schleicht, dann aber erst aufgewacht sein, nachdem er sich auf sie gesetzt hatte. Sie will zunächst nicht geschrien haben, um die anderen Familienmitglieder nicht zu wecken, dann will sie geschrien haben, worauf der Vater ihr den Mund zugehalten haben soll. Dieser soll ihr also mit einer Hand den Mund zugehalten, sie mit einer Hand gewürgt und mit zwei Händen an den Handgelenken festgehalten, dann mit einer weiteren Hand ein Kondom übergestülpt und schließlich in den Mund zu penetrieren versucht haben.

Dass da etwas nicht stimmt, wird schnell klar. Auch das Gericht merkt an, dass die Schilderungen so flach sind, dass das Tatgeschehen nicht rekonstruiert werden könne. In der Hauptverhandlung verweigert die Tochter die Aussage. Und just am Vortag sendet die Tochter dem Vater eine Freundschaftsanfrage über Facebook („Ich wollte mal schauen, wie er reagiert“). Im Zweifel wird deshalb der Vater freigesprochen.

Weshalb die Staatsanwaltschaft das erstinstanzliche Urteil noch mit Berufung ans Obergericht weiterzieht, das den Freispruch prompt bestätigt (vgl. SST.2016.223), bleibt freilich auch unklar.

(Bild: Stefan Meichssner, Seebad Kühlungsborn)