Buchempfehlung aus aktuellem Anlass

Vor 30 Jahren besiegelte SED-Sekretär Günter Schabowski das Schicksal des ersten und hoffentlich letzten sozialistischen deutschen Staates mit seiner legendären Pressekonferenz in Ost-Berlin endgültig.

Wer sich für die Anwaltschaft in der DDR interessiert, dem sei das Buch „Im goldenen Käfig“ von Christian Booß empfohlen. Es beschreibt, wie sich Anwälte in einem totalitären System namentlich im „Kollegium“ einrichten konnten oder mussten, wie der „sozialistische Anwalt“ die Verurteilung des Beschuldigten nicht gefährden durfte, wie unverschämt kapitalistisch Anwälte im Osten abzocken konnten, wie das MfS aufmüpfige Anwälte diskreditierte oder systemtreue Anwälte instrumentalisierte (Beispiel „Kanzlei Vogel“) etc.

Christian Booß, Im goldenen Käfig, Zwischen SED, Staatssicherheit, Justizministerium und Mandant – die DDR-Anwälte im politischen Prozess, Göttingen 2017, Band 48 der wissenschaftlichen Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

 

Keine Staatshaftung bei nichtiger Verfügung

Unser Mandant M. baute vor vielen Jahren gestützt auf eine kommunale Baubewilligung eine Liegenschaft mit großzügigem Garten. Obwohl sich ein Teil der Parkanlage mit Teich außerhalb der Bauzone befindet, bewilligte die Gemeinde entgegen den klaren Bestimmungen des Raumplanungsgesetzes das Bauvorhaben. Nur durch Zufall stellte die kantonale Abteilung für Baubewilligungen Jahre später die „illegale“ Parkanlage im Landwirtschaftsgebiet fest. Prompt erließ die Behörde eine Rückbauverfügung. Für M. wehrten wir uns dagegen. Im  Beschwerdeverfahren stellte der Regierungsrat als Beschwerdeinstanz die Nichtigkeit der Baubewilligung in Bezug auf die Bauten und Anlagen außerhalb der Bauzone fest und führte aus, der verfügte Rückbau sei nicht unverhältnismäßig. Der Beschwerdeführer sei nicht gutgläubig gewesen und ihm sei der Rückbau trotz der erheblichen Investitionen zumutbar. Nur für einen kleinen Teil der Anlage sah die Beschwerdeinstanz von einem Rückbau ab.

Nach Rechtskraft verlangt M. von der Gemeinde unter dem Titel Staatshaftung Schadenersatz. Die Gemeinde ist nur gerade bereit, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten, lehnt jedoch jegliche Ansprüche von M. ab, obwohl sie im Beschwerdeverfahren ein Fehlverhalten noch ausdrücklich zugestanden und auch der Regierungsrat auf die Fehler hingewiesen hatte.

Daher reichen wir gestützt auf das kantonale Haftungsgesetz gegen die Gemeinde Klage beim Verwaltungsgericht ein, mit der wir im Sinne einer Teilklage vorerst nur die klar ausgewiesenen Rückbaukosten für M. einklagen. Voraussetzung für eine Staatshaftung ist, dass eine Behörde einem Bürger einen Schaden zufügt, den sie widerrechtlich verursacht hat, und ein Kausalzusammenhang zwischen der schädigenden Handlung bzw. Unterlassung und dem Schaden besteht. Die Bestimmungen und die Doktrin zur deliktischen Haftung des Privatrechts gelten grundsätzlich als kantonales Verwaltungsrecht.

Das Gericht weist M.s Klage ab. Es geht zwar zwischen den Zeilen auch von einer schweren Amtspflichtsverletzung aus, indem die Gemeinde seinerzeit eine nichtige Verfügung erlassen hat. Dennoch verneint es die für eine Staatshaftung erforderliche Widerrechtlichkeit. Die Bau- und Planungsvorschriften schützten nicht primär das Vermögen des Betroffenen. Daher sei nach der objektiven Widerrechtlichkeitstheorie der reine Vermögensschaden im Sinne des Verhaltensunrechts nicht ersatzfähig. Schadensersatz gäbe es nur bei einer Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter oder eben – bei reinen Vermögensschäden – bei Verletzung von Schutznormen, welche spezifisch das Vermögen des Betroffenen schützen. Unsere Hinweise auf andere Lehrmeinungen vermögen das Verwaltungsgericht nicht zu überzeugen (vgl. WKL.2019.1).

In der Konsequenz haftet die Gemeinde oder der Staat also selbst bei groben Fehlern nicht, es sei denn, die verletzte Norm schütze auch und vor allem das Vermögen des Betroffenen. Immerhin ist dies unter Umständen bei einer Verletzung des Beschleunigungsgebots gemäß Art. 29 Abs. 1 BV der Fall, wenn die Behörde nicht innerhalb angemessener Frist entscheidet und dadurch dem Betroffenen ein Schaden entsteht (vgl. BGE 144 I 318, 335 E. 7.3.2 betreffend unterlassene Nutzungsplanung und Staatshaftung Waadt).

Invalidenrente neu bei Suchterkrankung

Eine Suchterkrankung führte bisher nicht zu einem Rentenanspruch gegenüber der Invalidenversicherung. Relevant wurde die Sucht erst, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkte oder die Folge eines solches Ereignisses war, so dass die Erwerbsfähigkeit beeinträchtig wurde.

Diese Rechtsprechung wurde mit Bundesgerichtsurteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 aufgegeben. Neu sind nachvollziehbar diagnostizierte Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen grundsätzlich als invalidenversicherungsrechtlich beachtliche psychische Gesundheitsschäden versichert. Die Diagnose allein genügt für einen Rentenanspruch aber nicht. Vielmehr sind die Auswirkungen des bestehenden Gesundheitsschadens auf die funktionelle Leistungsfähigkeit im Einzelfall für die Rechtsanwendenden nachvollziehbar ärztlich festzustellen (Art. 7 Abs. 2 ATSG; BGE 143 V 409, 412 f. E. 4.2.1 mit Hinweisen). Die Frage nach den Auswirkungen sämtlicher psychischer Erkrankungen auf das funktionelle Leistungsvermögen ist grundsätzlich unter Anwendung des strukturierten Beweisverfahrens zu beantworten (BGE 141 V 281 ff.). Hierzu gehören auch Abhängigkeitssyndrome. Dabei muss insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden. Zudem muss eine krankheitswertige Störung muss umso ausgeprägter vorhanden sein, je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren das Beschwerdebild mitprägen (BGE 127 V 294, 229 E. 5a).

Aus Gründen der Verhältnismässigkeit kann immerhin dort von einem strukturierten Beweisverfahren abgesehen werden, wo es nicht nötig oder geeignet ist. Es bleibt dann entbehrlich, wenn für eine länger dauernde Arbeitsunfähigkeit (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) keine Hinweise bestehen oder eine solche im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte in nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 409, 417 E. 4.5.3).

 

Krankentaggelder und IV

Die Taggeldversicherung stellt ihre Leistungen ein, nachdem die Invalidenversicherung (IV) ihre Leistungspflicht mit Vorbescheid verneint hat. Grund ist, dass die IV eine volle medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit und keine genügende Erwerbseinbuße feststellt.

Die Taggeldversicherung richtet ihre Leistungen wieder aus, nachdem wir sie darauf hingewiesen haben, dass erstens keine Bindungswirkung zwischen dem IV-Entscheid und der Taggeldversicherung bestehe und dass sie sich zweitens nicht voraussetzungslos auf die Schadenminderungspflicht berufen kann.

Die Taggeldzahlungen darf ihre Leistungen nicht einzig mit Verweis auf den negativen IV-Entscheid einstellen. Anders als die IV, welche die Erwerbsunfähigkeit versichert und die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit von Anfang an berücksichtigt, ist die Taggeldversicherung an die Arbeitsfähigkeit gebunden, die sich auf die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit bezieht. Das medizinisch-theoretisch zumutbare Belastbarkeitsprofil darf die Taggeldversicherung erst nach langer Dauer der Arbeitsfähigkeit mitberücksichtigen. Die Taggeldversicherung darf sich nicht voraussetzungslos auf die Schadenminderungspflicht des Arbeitnehmers berufen. Sie muss dem Arbeitnehmer zu einem Berufswechsel auffordern und ihm eine angemessene Anpassungszeit einräumen. Dabei muss sie konkret zumutbare Stellen nennen und aufzeigen, dass diese auch tatsächlich verfügbar sind. Anders als die IV darf sie sich dabei nicht auf den ausgeglichenen, sondern muss sich auf den konkreten Arbeitsmarkt beziehen.

Auch nach Vollzug des Berufwechsels, also wenn der Arbeitnehmer eine neue Stelle gefunden hat, erlischt die Leistungspflicht der Taggeldversicherung nicht automatisch. Die Taggeldversicherung muss den Anspruch auf ein sogenanntes Resttaggeld prüfen, wenn der Arbeitnehmer in der neuen Stelle im Vergleich zur ursprünglichen (und versicherten) Stelle weniger verdient. Die höheren Anforderungen an die Schadenminderungspflicht sind unter anderem in der klar definierten und relativ kurzen Leistungsdauer begründet.

Keine amtliche Verteidigung für Bagatellfälle

Unser Mandant M. hat gesundheitliche Probleme. Zu allem Übel wird er nun auch noch der Ehrverletzung beschuldigt. Die Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmten gestützt auf eine Strafanzeige die liebsten beiden Dinge im Leben von M.: PC und Handy.

M. beauftragt uns, ihm im Strafverfahren beizustehen. Da er eine Rente der IV bezieht, stellen wir den Antrag auf amtliche Verteidigung. Diese sieht das Gesetz insbesondere für Fälle vor, in denen der Beschuldigte (a.) selbst nicht über die nötigen Mittel verfügt, um sich eine Verteidigung zu leisten, und sich (b.) tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten stellen, denen der Beschuldigte allein nicht gewachsen ist. Bei einem besonders schweren Eingriff in die Rechte des Beschuldigten wird der Anspruch regelmäßig bejaht bzw. werden die Schwierigkeiten angenommen. Grundsätzlich nicht gewährt wird die amtliche Verteidigung in sog. Bagatellfällen, d.h. wenn dem Beschuldigten im Falle einer Verurteilung weniger als 4 Monate Freiheitsstrafe oder 120 Tagessätze Geldstrafe drohen (vgl. Art. 132 StPO). Das Bundesgericht hält dazu aber fest, dass der Schwellenwert nicht sakrosankt ist und es mitunter auch in sog. Bagatellfällen zur Wahrung der Verteidigungsrechte nötig sein kann, eine amtliche Verteidigung zu bestellen (vgl. BGE 143 I 164 ff.; Bundesgerichtsurteil  1B_318/2018 vom 28. September 2018, E. 2.3). Diese Rechtsprechung hängt auch mit der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zusammen, die auch die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten hervorhebt (vgl. EGMR Quaranta gegen Schweiz vom 24. Mai 1991, 12744/87Quaranta).

Die Aargauer Staatsanwaltschaft ist regelmäßig zurückhaltend und hält nicht viel von professioneller Verteidigung. So lehnt sie auch in diesem Fall das Gesuch ab. Die potentielle Strafe bewege sich im Bagatellbereich.

Da anhand der vorliegenden Informationen eine Einstellung oder ein Freispruch wahrscheinlich ist, kann immerhin damit gerechnet werden, dass die Verteidigungskosten im Rahmen der frei gewählten Verteidigung von der Staatskasse übernommen werden. Diesbezüglich ist die Praxis des obersten Gerichts erstaunlich großzügig: Ein Bürger, der sich mit strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert sieht, sucht sich schnell einmal die Hilfe eines Strafverteidigers. Diese Kosten der beschuldigten Person „für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte“ sind im Falle einer späteren Einstellung nach Art. 429 Abs. 1 StPO grundsätzlich vom Staat zu übernehmen (vgl. BGE 138 IV 197, 200 ff. E. 2.3). Entscheidend ist, ob die Mandatierung des Anwalts an sich und dessen konkreter Aufwand angemessen sind. Die Entschädigung ist deshalb häufig auch dann auszurichten, wenn kein Fall notwendiger oder gebotener amtlicher Verteidigung vorliegt.

Beiträge für sanierte Quartierstraße

K. erwirbt drei Grundstücke mit Abbruchsobjekten. Rasch erhält sie die Baubewilligung für den Neubau von Mehrfamilienhäusern auf dem neu zusammengelegten Grundstück. In der Baubewilligung kündigt die Gemeinde an, dass die Erschließungsstraße den Anforderungen nicht genüge und daher neu gestaltet werden müsse. In der Folge legt sie ein Straßenbauprojekt und einen Beitragsplan für eine totalsanierte Straße auf. Weil K. mit der Forderung der Gemeinde nicht einverstanden ist, gelangt sie an uns.

Wir erheben zunächst Einsprache bei der Gemeinde und anschließend Beschwerde beim Spezialverwaltungsgericht. Anlässlich der Augenscheinsverhandlung schlägt der Vorsitzende einen Vergleich vor, den die Parteien annehmen. Das Beschwerdebegehren von K. wird faktisch größtenteils akzeptiert und der Beitrag von K. an die Gemeinde reduziert.

Erwächst einem Privaten durch ein öffentliches Werk, z.B. eine Straße, ein wirtschaftlicher Sondervorteil, muss er sich an den Kosten beteiligen. Die Begründung liegt darin, dass er mehr als die Allgemeinheit von dem Werk profitiert. Für Quartiererschließungsstraßen zwecks Feinerschließung kann der Anteil der Anstößer bis 100 % betragen (vgl. § 34 BauG; Art. 6 WEG). In unserem Fall genügt die Straße den modernen Anforderungen nicht mehr. Weil sie neu erstmals mit einer richtigen Fundation, Randabschlüssen und einer Entwässerung versehen wird, gilt die Erneuerung als erstmalige und damit beitragspflichtige Erschließung.

Das akzeptiert K. im Grundsatz. Sie ist hingegen nicht einverstanden mit der Höhe der Beitragspflicht, insbesondere dass sie für eine Teilfläche des Grundstücks  mehr bezahlen müsste. Die Gemeinde ist der Auffassung, die Grundstücke seien aufgrund der großen Umschwünge und der ungenutzten Abbruchliegenschaften teilweise unüberbaut, weshalb praxisgemäß eine bis 50 % höhere Belastung als für bereits überbaute Grundstücke resultiere (konkret Anteil 100 % anstatt 66,7 % wie für die anderen Anwohner; vgl. AGVE 2014 Nr. 114). Weil aber der Beitragsplan zeitgleich mit der Baubewilligung aufgelegt worden ist, erblickt das Gericht den relevanten aktuellen Zustand in der Situation mit der unmittelbar zuvor bewilligten Überbauung; folglich geht sie von einem überbauten Grundstück aus und reduziert K.s Anteil.